„Schuld“ und „historische Wirklichkeit“ Ein Diskussionsbeitrag zum Thema: „Wer schuldet eigentlich wem was … im deutsch-polnischen Verhältnis?“ (Abdruck aus der in Brasilien und Deutschland herausgegebenen Folha Pomerana)
Klaus Fleischmann archipoeta_742@hotmail.com
Im Mittelpunkt der Frage steht das Wort „Schuld“, und dieses Wort „Schuld“ weist auf einen Zusammenhang, der mit „Geschichte“ und ihrer Wirklichkeit nur bedingt etwas zu tun hat. „Schuld“ kann im menschlichen Leben entweder durch Verzeihung aufgehoben oder mit Hilfe des Rechts gesühnt werden. Da es in der Fragestellung um politische Probleme und um geschichtliche Zusammenhänge geht, kann ich die
Frage nur beantworten, wenn ich sie auf dem Hintergrund der Kenntnis der polnischen und deutschen Geschichte durchdenke: es kann nicht um „Schuld“ vor dem Weltenrichter oder Moral gehen, sondern es geht um die Wirklichkeit des historischen Ereignisses im Zusammenhang des historischen Kontextes. Die Voraussetzungen der deutschen und polnischen Geschichte im Mittelalter waren schon geographisch verschieden: die deutsche Geschichte nahm ihren Ausgang in der Mitte Europas in der 2. Hälfte des 8. Jahrhunderts und entwickelte sich zum deutschen Reich im 9. und zu Beginn des 10. Jahrhunderts. Unter den ottonischen Königen und Kaisern wurde das deutsche Reich zum politischen und kulturellen Zentrum mit einer besonderen Verantwortung für die christliche Lehre im damaligen mittelalterlichen Europa. In den polnischen Stammesgebieten („Polen“ = Feldbewohner (nicht Bewohner der Küste des Meeres)) entsteht um 960 ein selbständiger polnischer Staat unter Mieszko I (960-992, aus dem Haus der Piasten). 966 wird Polen ein christlicher Staat mit eigenem Bistum (Posen). Im Laufe der 2.Hälfte des 10. Jahrhunderts gerät der junge polnische Staat schon bald in Berührung und in Auseinandersetzungen mit der deutschen Ostpolitik; 985 huldigt Mieszko Otto III, stellt aber sein Land unter den Schutz des Papstes auf dem Hintergrund der politischen Bedeutung des deutschen Reiches im damaligen Europa und der Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Papst. Unter seinem Nachfolger Boleslaw I Chrobry (992-1025) entwickelt sich ein freundschaftliches Verhältnis zum Reich, weil er der universalen Auffassung vom christlichen Kaisertum durch Otto III zustimmt. Otto III gründet zusammen mit Boleslaw im Jahre 1000 am Grabe des Bischofs Adelbert von Prag das Erzbistum Gnesen als selbständige polnische Kirchenprovinz. Diese Zusammenarbeit mit dem Reich endet schon 2 Jahre später: der König wendet sich von der universalen Idee eines christlichen Reiches ab und treibt eine gegen das Reich (und Böhmen) gerichtete polnische Interessenpolitik, die auch in den folgenden Jahrhunderten, eigentlich bis heute, vertreten wird. Trotz dieser polnischen Interessenpolitik gegen die politischen Interessen des Reiches in Ostmitteleuropa kann sich die deutsche Ostsiedlung (Ostkolonisation) im 11., 12. und 13. Jahrhundert in Pommern, Schlesien und Ostpreußen (1225/26 ruft der Herzog Konrad von Masowien den Deutschen Orden zur Hilfe, um die Preußen zu christianisieren.) bis zum Ende des 14. Jahrhunderts durchsetzen. Der Deutsche Orden und seine eroberten Gebiete in Ostpreußen stehen unter dem Schutz des Papstes und des Kaisers (vgl.a. 1226: die Goldene Bulle von Rimini); der Staat des Deutschen Ordens entwickelt sich im 13. und 14. Jahrhundert bis 1410 zum modernsten Staat des Mittelalters in Europa.
Das polnisch-litauische Großreich und der Deutsche Orden Durch den Aufstieg des polnisch-litauischen Großreiches Ende des 14.Jahrhunderts gerät der Staat des Deutschen Ordens in eine existentielle Notlage: einmal durch den Versuch des Polen Paulus Vladimiri, dem Deutschen Orden sein historisches Existenzrecht zu bestreiten – von Papst und Kaiser abgelehnt, und zum anderen durch den Kampf des polnischen Königs mit Hilfe des Geldes der deutschen Städte gegen den Deutschen Orden: diese Auseinandersetzung führt zum Untergang des Deutschen Ordens (s. 1410: Schlacht bei Tannenberg + 1466: (2.) Friede von Thorn.
Ostpreußen gerät in die Lehnsabhängigkeit bis 1657 (Vertrag von Wehlau) vom König von Polen.
Der Untergang des polnischen Königreiches 1795
In den folgenden Jahrhunderten: 16. bis 18. Jahrhundert spielt Polen im Hinblick auf
den Aufstieg Schwedens, Rußlands (seit Peter dem Großen) und Preußens und ihrer Auseinandersetzun-gen um eine hegemoniale Stellung in Osteuropa eine untergeordnete Rolle. Von 1697 bis 1763 kommt es zur Personalunion mit Sachsen (Haus Wettin, August II, der Starke). Reformversuche des innen-politischen Systems Polens (Wahlkönigtum, polnische Adelsrechte + „Liberum Veto“) scheitern aus innenpolitischen Gründen und den Interessen der osteuropäischen Mächte Rußland, Österreich-Ungarn
und Preußen; das Königreich Polen wird bis 1795 zwischen den drei Staaten aufgeteilt (1772 + 1793 + 1795) und löst sich als selbständiger Staat auf.
Die Folgen der Teilungen und der Auflösung des polnischen Staates für die europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts:
Die drei Teilungsmächte des polnischen Staates seit 1772 hatten für ihr Vorgehen unterschiedliche Gründe: Rußland verfolgte machtpolitische Interessen im Hinblick auf seine Westgrenze und wollte seine Westgrenze weiter in Richtung Westen schieben; hinzu kam die Beurteilung Polens als ein Unruhefaktor an seiner westlichen Grenze. Österreich befürchtete eine Benachteiligung seiner Interessen in Ostmitteleuropa und war mit dem Vorgehen Rußlands gegen Polen einverstanden, obwohl Maria Theresia gegen dieses Vorgehen gegen Polen war: „Treu und Glauben sind für alle Zeit verloren!“. Preußen erkannte die Durchsetzung einer territorialen Verbindung zu seiner Provinz Ostpreußen und natürlich den Erwerb einer weiteren Provinz im Osten (Westpreußen und Posen) als ein Glacis gegen ein Vordringen Rußlands nach Westen. …
Die polnische Nationalbewegung bis zum 1.und 2.Weltkrieg (1939/1945) Eine polnische Nationalbewegung gegen diese Politik der Ostmächte kann nicht unterdrückt werden. Polen wird auf dem Hintergrund der in der Französischen Revolution von 1789 entwickelten Vorstellungen über die „Nation“ im 19. Jahrhundert zu einem europäischen Unruheherd; vgl. a. die polnische Nationalhymne: „Noch ist Polen nicht verloren“, den polnischen Dichter: Adam Mickiewicz und den polnischen Komponisten: Fréderic Chopin (in Paris als Zentrum der polnischen Emigration). Schon im Jahre 1808 entwirft der Pole Hugo Kolontaj eine geographische Karte mit den ostdeutschen Ländern: Pommern, Schlesien und Ostpreußen als „alte Länder“ Polens und eine Grenze an der Oder; dieser Anspruch wird dann im Jahre 1915 während des 1.Weltkrieges in einer neuen Karte unter dem Titel: „L‘ Europe Future de Demain“ im Sinne des erwähnten Polen Paulus Vladimiri aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts wiederholt.
Während der deutschen Revolution von 1848 scheitert ein Versuch des deutschen Parlaments, mit den Vertretern des „Panslawismus“, zu dem auch der polnische Widerstand gehörte, z.B. mit dem tschechischen Historiker und Politiker Franz Palacky politisch zusammen zu arbeiten… Nach der Reichsgründ
ung im Jahre 1870/1871 belastet die polnische Minderheit in den Ostprovinzen Preußens bzw. des Reiches die Innenpolitik und begrün
det das gespannte deutsch-polnische Ver hältnis, das als politi sches Problem zwischen Polen und Deutschland bis heute nicht gelöst
werden kann. Die polnische Minderheit umfaßt 10% der preußischen Gesamtbevölkerung und wird damit zum nationalpolitischen Problem im Deutschen Reich. Im „Kulturkampf“ zwischen der Katholischen Kirche und dem Staat identifiziert sich die polnische Bevölkerung in Westpreußen und Posen mit der Katholischen Kirche und beginnt gegen die Deutschen zu kämpfen. Das folgenschwere Ergebnis der Gegnerschaft gegen das Deutschtum, des Kampfes um den Boden, die Schule und die Sprache ist die unheilvolle Verschärfung des Volkstumsgegensatzes in den 30 Jahren vor dem 1.Weltkrieg, die zwischen Polen und Deutschen eine tiefe Kluft aufreißt (vgl. a. die nationaldemokratische, deutschfeindlich-antisemitische Ideologie Roman Dmowskis (Warschau) vor und nach dem 1.Weltkrieg). Obwohl der preußische Staat der polnischen Minderheit in einer „Nationalitätenschutzerklärung“
kulturelle Autonomie zusicherte, die den Deutschen im polnischen Staat nach 1918/19 nie zugestanden wurde, kommt es zu keinem Ausgleich zwischen den Deutschen und den Polen. Die Bevölkerungsentwicklung verschiebt sich bis 1914 zugunsten der Polen in den Provinzen und auch in der Bodenpolitik können sich die Polen durchsetzen. Abgeordnete der polnischen Minderheit sitzen sowohl im preußischen Landtag im Abgeordnetenhaus als auch 10 bis 12 Abgeordnete seit 1870/71 im Deutschen Reichstag. Der Volkstumsgegensatz zwischen den Deutschen deutsch-polnischen Krieges am 1. September 1939 mit beigetragen hat.
Fortsetzung folgt:
Anm. d. Red.:
zu dem Thema „Wer schuldet eigentlich wem was im deutsch-pol. Verhältnis?“ finden Sie in der FP-505 einen Beitrag von Dr. Rudolf Lauff
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