von Christian Graf von Krockow
Historiker konzentrieren ihre Aufmerksamkeit auf die großen politischen Ereignisse und auf die gesellschaftlichen und geistigen Hintergründe; darum nennen sie die wilhelminische Epoche das Zeitalter des Imperialismus und suchen nach den Ursachen des Ersten Weltkriegs. Dagegen ist nichts einzuwenden. Die Zeitgenossen allerdings wussten noch nichts von den kommenden Dingen und interessierten sich zumeist für ganz anderes, zum Beispiel fürs Reisen. Denn wie die Menschen nun einmal sind, zeichnen sie sich durch die angeborene Neugier aus oder werden von ihr geplagt: Wohnen hinter den Bergen auch Menschen? Wie verhalten sie sich? Kann man mit ihnen reden, von ihnen etwas lernen oder sie belehren? Reisen bildet, und die deutsche Klassik, angeregt von Goethes «Italienischer Reise», hat hieraus gleich ein Bildungsprinzip gemacht: Wir nebelumwallten Nordmenschen brauch das mediterrane Gegenlicht, die Begegnung mit Italien oder Griechenland, um uns selbst zu finden, und das Eintauchen ins Fremde lässt uns die eigene Lebenswelt mit anderen Augen sehen oder aus dem glücklich gewonnenen Abstand überhaupt erst verstehen.

Freilich konnten in der älteren, «vormodernen» Zeit nur wenige es sich leisten, in die Ferne zu schweifen. Die Söhne des europäischen Hochadels unternahmen Bildungsreisen, einige Kaufleute Handelsreisen. Hinzu kam das fahrende Volk eher zweifelhafter Gestalt: Seeleute und Soldaten, Studenten und Handwerksburschen, angehende Künstler, Abenteurer und Diebesgesindel – durchweg nur Männer. Die Frauen blieben fast völlig ausgeschlossen.
Erst im achtzehnten Jahrhundert bahnte sich ein Wandel an, zunächst in England. Die Pioniere der industriellen Revolution waren zugleich die Pioniere des modernen Reisens. Frankreich und Italien waren ihre bevorzugten Ziele. Auch die Romantik des Rheins wurde ein bis zwei Generationen vor den Deutschen von Engländern entdeckt.
Das Unbekannte erkennen und verstehen, und sei es zunächst nur in der eigenen Vorstellungskraft: Immanuel Kant, der berühmte Philosoph, der Ostpreußen niemals verließ und sich in seinen reiferen Jahren nicht mehr als zehn oder zwölf Kilometer weit aus Königsberg hinauswagte, hielt seine am besten besuchten Vorlesungen über Anthropologie und Geographie; wir würden von Völker- und Länderkunde sprechen. Wer wirklich etwas zu sehen bekam, konnte der Aufmerksamkeit gewiss sein. Georg Forster, der zusammen mit seinem Vater von 1772 bis 1775 James Cook auf dessen zweiter Weltumseglung begleitete, wurde zum Begründer der literarisch anspruchsvollen Reisebeschreibung in deutscher Sprache. Etwas später erreichte der der Fürst Hermann von Pückler-Muskau mit seinen Büchern Bestsellerränge. Wer kein Fürst und auch sonst mit Gütern kaum gesegnet war, aber das Herz auf dem rechten Fleck hatte, nah den Knotenstock in die Hand, wie von 1801 bis 1802 Johann Gottfried Seume bei seinem «Spaziergag nach Syrakus».

Im Zeichen der Eisenbahnen und Dampfschiffe brach eine neue Ära heran. Im Jahre 1845 gründete der wagemutige Thomas Cook das erste Reisebüro; er wurde zum Erfinder des modernen Tourismus, der Pauschal- und Geschäftsreisen mit fachkundiger Begleitung, kompletten Fahrscheinheften und Hotelcoupons. Auch die Druckwerke gehörten zur Sache. Seit 1850 erschien die Monatsschrift The Excursionist, Der Ausflügler, und Kataloge oder Handbücher bereiteten die Reisenden auf das vor, was sie zusehen bekamen. Hinzu traten dann die Kur- und Badeaufenthalte und die «Sommerfrische», nun nicht mehr für wenige Auserwählte, sondern für ein rasch wachsendes, zunächst einmal «gutbürgerliches» Publikum. Denn vom bezahlten Jahresurlaub war noch längst nicht die Rede; für Arbeiter blieben bloß der Sonntagsausflug «ins Grüne» und die Einkehr in Lokale, in die man seine Butterbrote mitbringen durfte.
Die wilhelminische Gesellschaft errichte eine Zwischenstation, auf halbem Weg zwischen der uralten Unbeweglichkeit und der Mobilität der Moderne. Von der sprunghaften Zunahme des Verkehrs spricht die Vergleichszahl:

Im Jahre 1890 betrug die Gesamtstrecke, die die Menschen in Deutschland mit Eisenbahnen zurücklegten, 11,3 und 1913 bereits 41,4 Milliarden Kilometer – am Äquator gemessen eine millionenfache Erdumrundung. Dabei erreichten die Züge eine Spitzengeschwindigkeit von 100 Kilometern pro Stunde. Und der Passagierdampfer «Kaiser Wilhelm der Große» des Norddeutschen Lloyd brauchte im Frühjahr 1898 von Southampton nach New York 5 Tage und 20 Stunden; er entwickelte eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 22,29 Knoten oder mehr als 40 Kilometer pro Stunde.

Im Zeitalter der Düsenflugzeuge und Weltraumraketen mögen uns diese Zahlen kaum imponieren, aber damals bedeuteten sie Unerhörtes: Triumphe der Technik, die zu einer Wende in der Menschheitsgeschichte führten. Denn vom Anbeginn der Geschichte bis zur Goethezeit gab es natürliche Grenzen; schneller als auf dem Rücken eines galoppierenden Pferdes oder mit einem Segelschiff, abhängig von Wind und Flaute, konnte sich niemand bewegen. Jetzt wurden die Grenzen gesprengt, und mit Automobil, Zeppelin und Flugzeug kündigte sich der weitere Fortschritt an.
Wilhelm II. teilte die Reiselust seiner Epoche; er wurde zum Reisekaiser und hat mit seinem Umherziehen die Zeitgenossen ebenso irritiert wie fasziniert. Dabei folgte er einem genau festgelegten Ablauf, der sich Jahr für Jahr exakt wiederholte.
Vom November bis zum Februar hielt sich seine Majestät zumeist in Berlin, zum Teil auch in Potsdam auf. Anlass war die winterliche Fest- und Ballsaison mit ihren Eckpunkten. Am 18. Januar versammelten sich zum Beispiel die Ritter des Schwarzen Adlerordens, zu denen an diesem Datum neue feierlich hinzutraten, weil der Orden am 18. Januar 1701 vom ersten Preußenkönig, Friedrich I., bei seiner Krönung gestiftet worden war. Des Kaisers Geburtstag am 27. Januar wurde nicht nur bei Hofe, sondern überall im Lande mit Beflaggung, Truppenparaden, Ansprachen und Ordensverleihungen gefeiert, umrahmt von patriotischem Gesang: «Heil Dir im Siegerkranz, Herrscher des Vaterlands, Heil Dir, Kaiser, Dir!»
Ein besonderes Ereignis, die jährliche Reichstagseröffnung, sei von einer Augenzeugin näher geschildert:
«Am Vormittag des 7. Februar wurde der Reichstag in feierlicher Weise im Weißen Saal (des Berliner Stadtschlosses) nach einem Gottesdienst eröffnet, der für die evangelischen Mitglieder in der Schlosskapelle, für die katholischen in der Hedwigskirche stattfand. Die Reichstagseröffnungsfeiern im Beisein Seiner Majestät und unter Entfaltung höfischen Glanzes zeigten stets ein eindrucksvolles Gepräge. Ihre Majestät und die Prinzessinnen mit ihren Hofstaaten wohnten ihnen meist von der Kapellentribüne aus bei, auch wurden einzelne Damen und Herren der Gesellschaft geladen. Der Saal war dicht gefüllt von den Reichstagsabgeordneten aller Parteien – nur die Sozialdemokraten hielten sich fern -, den Mitgliedern des Bundesrates, den Ministern, der Generalität und so weiter. Fanfarenrufe kündigten das Nahen des kaiserlichen Zuges an. Voran die Schlossgarde-Kompaniue, ihr folgten die Hoffuriere, zwei adlige Herolde, die Hof-, Oberhof und obersten Hofchargen, dann die Herre, die die Reichsinsignien trugen, General der Infanterie von Moltke mit dem Reichssiegel, Feldmarschall Freiherr von der Goltz mit dem Zepter, Großadmiral von Tirpitz mit dem Reichsapfel, der Kriegsminister von Heeringen mit dem entblößten Reichsschwert, Feldmarschall Graf Schlieffen mit der Krone, Generaloberst von Kessel mit dem Reichspanier. Seine Majestät in der Galauniform der Garde-du Corps, den Adlerhelm auf dem Haupt, gefolgt von den königlichen Prinzen, dem Hauptquartier, dem Hausminister und den Gefolgen der Prinzen. – Nachdem Seine Majestät die Stufen erstiegen hatte und die Insignienträger sich um ihn gruppiert hatten, erfolgte die Verlesung der Thronrede. Die ganze Zeremonie war ungemein packend und wirkungsvoll und übte einen eigenartigen Zauber aus. Selbst die kühle, kritische Fürstin Anton Radziwill-Castellane, eine geborene Französin, äußerte sich mir gegenüber bei einer derartigen Gelegenheit mit überströmender Begeisterung: «Was seid ihr Deutschen für kalte Menschen, welchen Jubel hätte diese Szene in Frankreich ausgelöst, wie wären die Franzosen hingerissen gewesen von diesem Kaiser!»
Ja, Wilhelm II. verstand sich auf Inszenierungen, nicht von ungefähr interessierte er sich für die Ausstattung und die Regie bei Theater- und Opernaufführungen. Im übrigen wird man an britische Parlamentseröffnungen erinnert, die bis heute mit großem Zeremoniell ablaufen, allerdings mit einem bezeichnenden Unterschied: Nicht die Abgeordneten kommen in den Buckingham-Palast, sondern die Königin fährt mit ihrer Staatskarosse ins Parlament.
Doch zurück zu den Reisen. Im März und April befuhr der Kaiser mit der «Hohenzollern» das Mittelmeer und landete auf der griechischen Insel Korfu. Dort hatte er das Achilleion, das Schloss von «Sissi», der 1898 ermordeten Kaiserin Elisabeth von Österreich, erworben und interessierte sich leidenschaftlich für Ausgrabungen. Die Archäologie war, modern ausgedrückt, sein Hobby, das er auch in der Zeit des Exils noch pflegte.
Der spätere April und der Mai gehörten Elsaß-Lothringen, wo Wilhelm II. in Urville bei Metz ein Schloss besaß. Unterbrochen wurde dieser Aufenthalt nur von Kurzbesuchen in Karlsruhe und der Kurstadt Wiesbaden anlässlich der dortigen Maifestspiele.
Im Juni fuhr der Kaiser zur Kieler Woche, «einem politisch-gesellschaftlichen Großereignis» mit internationaler Besetzung, das er ins Leben gerufen hatte, um für seine Lieblingsidee «Deutschlands Zukunft liegt auf dem Wasser» zu werben. Wilhelm II. hielt hof im Kreise europäischer Fürstlichkeiten und amerikanischer Millionäre, rheinischer Großindustrieller und hanseatischer Patrizier, die mit ihren Segelyachten an der kaiserlichen Regatta teilnahmen. Das war nicht nach dem Geschmack der Entourage (des traditionellen Gefolges), aber elegant, sportlich und modern und beinahe so schick wie die britischen Segeltage in Cowes, die ihm als Kronprinzen so imponiert hatten.
Die vierwöchige Nordlandreise schloss sich an, von der gleich noch berichtete werden soll, und den August verbrachte der Kaiser oft auf Schloss Wilhelmshöhe in Kassel, einer preußisch-bismarckschen Eroberung aus dem Jahre 1966.
Im September fanden Truppenparaden und die Heeresmanöver statt, jedes Jahr in einer anderen Provinz. Sie leiteten über zur Jagdsaison, mit Vorliebe in Ostpreußen und Schlesien, aber natürlich auch in der brandenburgischen Schorfheide, der hannoveranischen Göhrde oder im Harz. Darüber verging der Oktober.
Zu all diesen Jahresrundgängen sozusagen im eigenen Revier kamen dann die halb familiären, halb diplomatischen Besuche in Russland, in Österreich und in England noch hinzu; die alte Königin Victoria starb am 22. Januar 1901 in den Armen ihres deutschen Enkels. Schließlich gab es die außerordentlichen Reisen aus besonderem Anlass. Die herausragendste war wohl die nach Palestina im Jahre 1898.
Die Reise begann am 12. Oktober in Venedig. Weil die «Hohenzollern» für das große Gefolge – darunter viele Geistliche – bei weitem nicht ausreichte, fuhren außerdem das Passagierschiff «Mitternachtssonne» und der gerade fertiggestellte Kreuzer «Hertha» mit. Man besuchte noch unter anderem den türkischen Sultan in Konstantinopel (dem heutigen Istanbul), bevor man Jerusalem und Damaskus erreichte. Im Heiligen Land wurde die Reise von Thomas Cook organisiert; zur Kaiserkarawane gehörten 1300 Pferde und Maultiere, 100 Kutschen, 12 Packwagen mit 230 Zelten, 600 Treiber, 10 Reiseleiter, 12 Köche und 60 Kellner. … In Jerusalem empfing Wilhelm II. den Führer der zionistischen Bewegung, Theodor Herzl, und versprach ihm Hilfe beim Aufbau eines Judenstaates. In Damaskus dagegen hielt er eine Tischrede, in der er sagte: «Möge der Sultan und mögen die 300 Millionen Mohammedaner, die, auf der Erde zerstreut lebend, in ihm ihren Kalifen verehren, dessen versichert sein, dass zu allen Zeiten der deutsche Kaiser ihr Freund sein wird! (Anm. der Redaktion: Stammt die aktuell widersprüchliche Haltung zu Israel und dem Islam vielleicht schon aus dieser wilhelminischen Zeit?) In London, St. Petersburg und Paris horchte man auf: Was war damit gemeint? Wollte Deutschland etwa zur Schutzmacht der Türkei werden und Einfluss im Nahen Osten gewinnen? Die ‘Alldeutschen Blätter’ jedenfalls zeigten sich begeistert und schrieben: «Also Volldampf voraus nach dem Euphrat und Tigris und nach dem Persischen Meer und damit der Landweg nach Indien wieder in die Hände, in die er allein gehört, in den kampf- und arbeitsfreudigen deutschen Hände.» (Anm. der Redaktion: Schon damals war klar, dass Verkehrs- und Energiewirtschaft von Kohle auf Öl umstellen würden und Deutschland hatte sich im Gegensatz zu England und auch USA noch keinen Zugang zu Ölquellen gesichert … und die befanden sich im Nahen Osten; auch die mit dem türkischen Sultan vereinbarte Bagdadbahn sollte diesem Zweck dienen. Dieses Projekt wurde allerdings wie viele andere durch den 1. Weltkrieg vereitelt.) …
Ganz anders als bei der Fahrt in den Orient ging es bei den alljährlichen Nordlandreisen zu, die von 1889 bis 1914 regelmäßig (Anm. der Redaktion: auch kurz vor Beginn des 1. Weltkriegs noch) stattfanden. Rückzug in die erhabene Natur, in die Einsamkeit norwegischer Fjorde, eine Zeit der Stille und der Besinnung? Nur wenige Auserwählte und, wie schon gesagt, nur Männer waren als Begleiter zugelassen: Minister, Offiziere, Geheimräte, Freunde wie Philipp Eulenburg, manchmal Gelehrte oder Künstler wie der kaum bedeutende, aber vom Kaiser geschätzte Historienmaler, Kunstschriftsteller und Akademieprofessor Hermann Knackfuß (1848-1915). Zur Teilnahme eingeladen zu werden war eine hohe Auszeichnung. …
Die Reislust Wilhelm II. lässt sich verschieden auslegen. Man kann zum Beispiel murrköpfig sagen: Ein Kaiser gehört in seine Hauptszadt und an den Schreibtisch, um Akten zu lesen. Bismarck hat – im absichtsvollen Kontrast – den Großvater, Wilhelm I., geschildert: ‘Von dem Augenblicke des Antritts der Regentschaft an hatte Prinz Wilhelm den Mangel an geschäftlicher Vorbildung so lebhaft empfunden, dass er keine Arbeit Tag und Nacht scheute, um demselben abzuhelfen. Wenn er Staatsgeschäfte erledigte, so arbeitete er wirklich, mit vollem Ernst und voller Gewissenhaftigkeit. Er las alle Eingänge, nicht bloß die, welche ihn anzogen, studierte die Verträge und Gesetze, um sich ein selbständiges Urteil zu bilden. Er kannte keine Vergnügung, die den Staatsgeschäften Zeit entzogen hätte.’ Natürlich spielt Bismarck hier gegen Wilhelm II. auch die preußisch-deutsche Vorstellung aus, dass Müßiggang der Anfang aller Laster sei und dass der Monarch der erste und unermüdlichste Arbeiter der Nation sein sollte – wobei allerdings daran zu erinnern wäre, dass der Reichsgründer selbst seit 1871 fast die Hälfte seiner Amtszeit gar nicht im Amt, sondern in der Abgeschiedenheit von Varzin und Friedrichsruh oder zum Kuraufenthalt in Kissingen verbracht hat.
Aber trifft die preußische Vorstellung denn zu? Verwechselt man das Staatsoberhaupt womöglich mit einem Staatssekretär, Fachminister oder Kanzler? Ist das Aktenlesen wirklich seine Hauptaufgabe? Wozu ist heutzutage ein Bundespräsident da, wenn nicht zum Repräsentieren, Umherreisen und Redenhalten?
In eine ganz andere Richtung führen romantische Vorstellungen, die zurückgreifen auf das Mittelalter: Die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches verfügten über keinen festen Wohnsitz, sondern zogen von Pfalz zu Pfalz umher. Was das Kaisertum bedeutete und seine Ausstrahlung ausmachte, ließ sich einer sesshaften und durchweg leseunkundigen Bevölkerung nur zur Anschaueung bringen, wenn die Kaiser selbst mobil waren. Wilhelm II. nahm also Uraltes, fast Vergessenes und doch Wichtiges wieder auf, wenn er im Rundgang des Jahres mit mehr oder weniger regelmäßigen Stationen Deutschland durchreiste. Mit besonderer Pointiering vertritt Nicolaus Sombart diese Deutung.
Aber sie lässt sich gleich mehrfach bestreiten. Erstens konnten die Deutschen inzwischen lesen und waren mit Zeitungen wohlversorgt. Zweitens erzielt die Ausstrahlung und ‘Heiligung’ des Herrschers vielleicht gerade im Geheimnis seine größte Wirkung, dann also, wenn der Monarch sich nicht vom Fleck rührt, sondern in seinem Palast den Blicken der Menschen entzogen bleibt. Man denke an den Kaiser von China oder an den Tenno in Japan. Drittens hatte das mittelalterliche Umherziehen auch etwas mit höchst unromantischen Versorgungsproblemen, mit der ‘Logistik’ zu tun; ein fester Wohnsitz des Kaisers fraß sozusagen seine Umgebung kahl, und die Transportmöglichkeiten reichten nicht aus, um Abhilfe zu schaffen.
Viertens: Der Kaiser schwärmte zwar von seinem Gottesgnadentum, aber sonst dachte er praktisch. Es war einfach angenehm, das Frühjahr erst auf einer Mittelmeerinsel, dann im Elsaß und in der Kurstadt Wiesbaden zu genießen. Die Heeresmanöver mussten dann stattfinden, wenn die Ernte eingebracht war und auf Stoppelfeldern die Flurschäden sich in Grenzen hielten. Die Jagdsaison hatte mit dem Beginn der Hirschbrunft zu tun – und die Auswahl der Orte mit der Frage, wo es die meisten Hirsche an die stärksten Geweihe gab. …

Wilhelm II. war ein moderner Mensch, der Mann seiner Epoche, und zu ihr gehörte die Faszination durch das Reisen. Diese Faszination war noch nicht durch Gewohnheit und Massenbetrieb abgestumpft, weil die Möglichkeiten sich gerade erst erschlossen, mit der Eisenbahn in die Ferne zu gelangen oder mit Dampfschiffen die Flüsse und Meere zu befahren. Zur Sache gehört auch, dass der Kreis der Reisenden sich zwar rasch erweiterte, aber gleichwohl begrenzt blieb. Das Reisen war daher ein Statussymbol, ein Ausweis des Dazugehörens zu den gehobenen Schichten und ein Gegenstand des Neides. …

Der Kaiser verkörperte den Aufbruch, die Verheißung der Zukunft, jene «herrlichen Tage», zu denen er die Nation zu führen versprach – und mit seinem Umherreisen eben die herrlichsten Tage von allen, die Urlaubswochen. Dass er mit den Aufenthalten auf Korfu und mit den Nordlandreisen die Horizonte des Durchschnittsbürgers weit überschritt, enthielt eine zusätzliche Verheißung. Tatsächlich lag ja auch darin die Zukunft beschlossen.
(Quelle: Christian Graf von Krockow, Wilhelm II. und seine Zeit, Auszüge aus dem Kapitel ‘Vom Reisen und Reden’)
Deja una respuesta