(Ein Auszug aus der Schrift von Felix Ermacora «Die Selbstbestimmungsidee»)
- Die Entwicklung der Selbstbestimmungsidee kann in groben Zügen umrissen werden. Sie ist Gemeingut von Völkerrecht und internationalen Beziehungen von Staats-, Rechts- und Politikwissenschaft. Die Idee der Selbstbestimmung reicht zurück in das aufklärerische Denken. Sie ist verwandt mit der dem Individuum zugemessenen Selbstbehauptung gegenüber der Gefahren, die von außen auf den Menschen eindringen. Der Ausdruck «Selbstbestimmung» wird im Zusammenhang mit politischen Entscheidungsfragen erstmals in der deutschen Sprache verwendet. Das stellen Theoretiker englischer Zunge fest (Wambaugh und Murray). Der deutsche Historiker Treitschke hat den Ausdruck «Selbstbestimmung» bei der Behandlung der schleswigschen Frage verwendet. Er wird von einem führenden tschechischen Abgeordneten zum böhmischen Landtag gebraucht (Franz Lad. Rieger). Man findet Fakten der Selbstbestimmung schon im 18. Jahrhundert: Durch Volksentscheide wurden 1791 Avignon und das Comitat Venaissin und 1798 die freie Stadt Mühlhausen zu Frankreich geschlagen. 1798 sprach sich der Tessin in einem Plebiszit gegen eine Abtrennung von der Schweiz aus. Bei der Vereinigung der Ionischen Inseln wurde auf die Selbstbestimmung verwiesen. Art. 5 des preußisch-österreichischen Friedensvertrags von 1866 eröffnete den dänischen Bewohnern Nordschleswigs ein Selbstbestimmungsrecht. Der Ausdruck Selbstbestimmung findet sich auch in Verfassungen der schweizerischen Kantone (so zum Beispiel in der Verfassung Zürichs von 1869). Die Selbstbestimmung wird als Grundsatz von Entscheidungen über Gebietshoheiten im Zuge des italienischen Risorgimento ausgesprochen und diente 1877 zur Lösung des dänisch-französischen Streitfalles über die Bartolomäus-Inseln.
- Im Laufe des Ersten Weltkrieges wird die Berufung auf die Selbstbestimmung zu einem KRIEGSZIEL der Alliierten, zu einer Forderung der österreichischen Nationalitäten und zu Bedingungen in den Waffenstillstandsverträgen zwischen den Mittelmächten und den Alliierten. Dass die Bedingungen in den Waffenstillstandsverträgen von den Alliierten dann nicht oder nur begrenzt erfüllt wurden, steht auf einem anderen Blatt. S. Wanbaugh zeichnete anhand der zu ihrer Zeit verfügbaren Dokumente über die Beratungen auf der Pariser (Versailler) Friedenskonferenz 1918/1919 die Wirkung des Selbstbestimmungsprinzips nach: Im deutschen Friedensvertrag einigte man sich auf fünf, im österreichischen Staatsvertrag auf auf eine Volksabstimmung, die dann durch ein Sonderprotokoll, das Venediger Protokoll vom 9, November 1921, ergänzt worden ist. Über diese Vorgänge gibt Viefhaus Auskunft.
- Bis zum Ende der Zwischenkriegszeit ist deutlich geworden, dass die Selbstbestimmung kein allgemein gültiger Rechtssatz war, sondern dort, wo sie gewährt wurde, partikulares Völkerrecht gewesen ist; Rechtsnorm war sie nur gegenüber den ausdrücklich Verpflichteten in dem eigens festgelegten Rahmen; dort, wo sie nicht als Recht gewährt wurde, war es strittig, ob die Selbstbestimmung ein völkerrechtlicher Grundsatz oder nur eine politische Maxime gewesen ist, «den die Staatsmänner von jetzt ab nur mehr auf eigene Gefahr missachten dürfen». (W. Wilson).
- Was den Inhalt der Selbstbestimmung dort wo sie als partikulares Völkerrecht verstanden wurde, angeht, so wird sie im englischen Raum (G. Murray) im Gegensatz zur Selbstregierung gesehen. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass sich die Länder der Republik Österreich im Jahre 1918/1919, aber schon Kantone der Schweizer Eidgenossenschaft im 19. Jahrhundert unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht auch zum innerstaatlich politischen Gestaltungsprinzip geworden ist (Stichwort: Volksabstimmungen).
- Die Typen der Selbstbestimmungsbewegung sind in der bis zum Zweiten Weltkrieg abgelaufenen Zeit die folgenden: Mehrere Staaten schließen sich innerhalb eines geographisch geschlossenen Raums zu einem Einheitsstaat zusammen (zum Beispiel des italienischen Risorgimento). Die Staaten staatenbündischer Organisationen schließen sich zu einem Bundesstaat unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht zusammen (Beispiel Schweiz). Mehrere bisher in ein und demselben Staatsverband zusammengefassten Völker bilden unter Dismembration des bisherigen Staatsverbandes unabhängige Staaten ( z.B. Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie) oder: Ein geschichtlich und geographisch einheitlich, aber ethnisch differenzierter Raum verbleibt kraft des Selbstbestimmungsrechts im bisherigen Staatsverband (zum Beispiel Oberschlesien, Allenstein, Marienwerder, Kärnten). Die Selbstbestimmung wird – sieht man vom Fall der Bildung österreichischer Länder und der Bildung der Kantone des Schweizer Bundesstaates ab – als ein vom Völkerrecht ethnisch spezifizierten Menschengemeinschaften und auch für das von ihnen bewohnte Territorium ausgeübt wird. Die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts wird im allgemeinen in der Zwischenkriegszeit so verstanden, dass bei erfolgreicher Ausübung dieses Selbstbestimmungsrechts die entsprechende ethnische Gruppe, Volksgruppe, das Volk sich entscheidet, einem anderen Gemeinwesen zugehören zu wollen. Damit wird die stattliche Souveränität entschieden berührt und sozusagen zum Widerpart der Selbstbestimmung: Souveränität ist Recht des Staates, Selbstbestimmung ist Recht des ethnisch, religiös oder rassisch geschlossenen Verbands.
- Die Typen der Selbstbestimmung gewinnen seit dem Zweiten Weltkrieg eine völlig neue Dimension. Sie sind territorial und inhaltlich wesentlich weitgespannter als in der Zwischenkriegszeit. Namen von Gelehrten Decker, Kunz, Rabl, Veiter, Kloß zeichnen die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts in dieser Phase auf. Unter Selbstbestimmung wird schon im Jahre 1945 verschiedenes verstanden: Zunächst ist Selbstbestimmung eine politische Maxime, nach der die von den Achsenmächten ihrer Selbständigkeit beraubten Staaten (wie Österreich, – Deutschland, ergänzt von mir – die Tschechoslowakei, – jetzt Tschechien und Slowakei -, Polen u.a.) ihre Unabhängigkeit wieder gewinnen sollen; sodann versteht man unter Selbstbestimmung im Lichte der Charta der Vereinten Nationen die Begründung staatlicher Unabhängigkeit von Völkern der Territorien unter kolonialer oder ehemaliger Mandatsherrschaft. Dass auch geographisch und politisch zu Europa zählende Territorien und Völkergemeinschaften im Zuge der Selbstbestimmung ihre staatliche Unabhängigkeit ansprachen – zum Beispiel Zypern …. zeigt, dass die Anwendung der Selbstbestimmung nicht auf den afroasiatischen und südamerikanischen Raum allein beschränkt war, sondern auch auf Europa ausgedehnt wurde. Allerdings fand sie dort nur auf Kolonialverhältnisse Anwendung. Es wäre daher falsch, daraus den Schluss abzuleiten, dass die Selbstbestimmung, so wie sie von den Vereinten Nationen proklamiert wurde, für europäische Staaten schlechthin anerkannt würde; denn sie fand wie gesagt in Europa nur auf Kolonialfragen Anwendung. Auf ein anderes Phänomen in der UN-Selbstbestimmung ist aufmerksam zu machen: Geradezu kein afro-asiatischer Staat hat seine Unabhängigkeit durch einen auf UN-Resolutionen gestützten revolutionären Akt errungen, sondern die Unabhängigkeit ist in den afro-asiatischen Gemeinwesen von den ehemaligen Kolonialmächten kraft souveränen Staatsakts gewährt worden. Wo aber der souveräne Staat die Selbstbestimmung missachtet, stehen noch heute (Stand: Anfang 1974!) afrikanische Völker unter einem Kolonialregime bzw. Treuhandregime (wenn auch die Bezeichnungen hierfür in der Terminologie andere sein mögen: das gilt für Südrhodesien, die Republik Südafrika und die Bevölkerung in den portugiesischen Territorien Afrikas). Man kann also sagen, dass unter direkter oder indirekter Berufung auf die Selbstbestimmung eine zahlenmäßig ungemein größere Staatenwelt gegenüber jener wie sie in der Zwischenkriegszeit nach dem Zweiten Weltkrieg bestanden hat, entstanden ist.
- Ferner wird unter Selbstbestimmung vor allem im europäischen Raum nach wie vor die Möglichkeit verstanden, dass eine Menschengruppe, die sich durch ethnische, rassische, religiöse Merkmale von der Mehrheit des Staatsvolkes unterscheidet, jener Staatsautorität unterstellt sein will, in der sie nicht Minderheit ist, sondern zum Mehrheitsvolk gehört. All das hat mir Staatshoheit, Gebietshoheit zu tun. Die Selbstbestimmung hat sich aber auch als Element eines Sachhoheit herausgebildet. Und zwar als die Sachhoheit, über wirtschaftliche, soziale, kulturelle Güter sowie als Hoheit, über einen politischen Status in einem gegebenen Staat zu entscheiden.
- Von der klassischen Selbstbestimmungsvorstellung her: Selbstbestimmung als Recht von Personengruppen zu verstehen, die Gebietshoheit zu verändern, hat sich die Selbstbestimmung weiter entwickelt, als Recht den sozioökonomischen Status zu bestimmen und als Recht, eine eigene Staatshoheit an und für sich zu begründen.
- All das ist im besonderen aus der Arbeit der Vereinten Nationen sichtbar geworden, die einige markante Weichenstellungen durch ihre Rechtsetzung vorgezeichnet haben und dies vor allem durch die praktische Anwendung dieser Rechtsetzung im Entkolonialisierungsprozess vorgesehen hat. Diese Weichenstellungen sind: a) Art. 1 der Menschenrechtspakte, wo die Selbstbestimmung als Selbstbestimmungsrecht weltweit proklamiert wurde und b) die Deklaration betreffend die völkerrechtlichen Grundsätze über die Zusammenarbeit zwischen den Staaten gemäß der Charta.
- Daher ist die Frage der Gewährung der Selbstbestimmung im konkreten Fall entscheidend davon abhängig, wie die Selbstbestimmung im universellen Rahmen überhaupt zu verstehen ist. Das soll im folgenden näher angeführt werden
Zunächst sei hervorgehoben, dass die Charta der Vereinten Nationen an keiner Stelle von einem Recht auf Selbstbestimmung spricht. Art. 1 § 2 und Art. 55 der Charta sprechen von einem «Grundsatz der Gleichberechtigung und der Selbstbestimmung der Völker». Art. 76 lit. b der Charta spricht von einer Verpflichtung zur schrittweisen Entwicklung in Richtung auf Selbstverwaltung und auf Unabhängigkeit. Es wird aber nichts über einen Träger oder über den Inhalt eines Selbstbestimmungsrechts gesprochen. Die Charta enthält auch keine Aussage über das Verfahren, die Selbstbestimmung zu gewährleisten. Auch ist, einschränkend, insbesondere auf britische Initiative hin ein Satz zu vermerken, wonach der Selbstbestimmungsgrundsatz «mit den Zielen der Vereinten Nationen nur insofern übereinstimmt, als es in Form der Selbstverwaltung, nicht aber soweit es in Form der Selbstverwaltung, nicht aber soweit es in Form der Abtrennung vom gegebenen Staat verwirklicht wird». Dieser Satz fand allerdings weder Zustimmung der Vertragspartner, noch wurde er zu positivem Recht erhoben. Mit einem Wort, die Charta gibt nur soviel her, dass die Gewährung der Selbstbestimmung jedenfalls eine Handlungsmaxime der Vereinten Nationen ist und von den Staaten als politische Doktrin geachtet werden soll. Allerdings lässt sich aus der Erlassung der Charta im Jahre 1945 nachfolgenden Praxis der Vereinten Nationen lässt sich in zwei Bereiche gliedern. Der eine betrifft die Behandlung des konkreten Falls, der andere die quasilegislative Arbeit der Vereinten Nationen.
Die Behandlung des konkreten Falls vor der UN
11. Die Behandlung des konkreten Falls ist in dem UN-Doc. A/2929 aufgezeichnet. Sie betrifft die Anwendung der Selbstbestimmung auf «dependent» und «non-self-governing territories». Hier ragen die richtungsweisenden Revolutionen der GV 742 und 1514 hervor. Die erste bezieht sich auf abhängige Gebiete und legt die Merkmale dafür fest, wann die Bedingungen für die Unabhängigkeit oder eine andere Form eigenständiger Regierungsgewalt in einem Gemeinwesen erreicht worden ist. Die andere Resolution ist gemeinhin als Entkolonialisierungsresolution bekannt, die unter dem Eindruck des ersten Mitgliederschubs afrikanischer Staaten im Jahre 1960 beschlossen wurde. Seither findet sich eine lange Reihe von Resolutionen von verschiedenen Organen der Vereinten Nationen, die sich bei Wiederholung der Selbstbestimmungsforderungen für koloniale und abhängige Gebiete auf diese Resolutionen berufen. Sie sind in dem UN-Doc. E/CN. 4/1081 gesammelt. Es steht hierbei zunächst außer Zweifel, dass sich diese Praxis der Vereinten Nationen nicht auf die Selbstbestimmung schlechthin, sondern auf die Selbstbestimmung von unter Kolonialherrschaft stehenden Völker und Territorien bezieht.
Die quasilegislatorische Arbeit der Vereinten Nationen hinsichtlich der Selbstbestimmung
12. Was nun die quasilegislative Arbeit der Vereinten Nationen hinsichtlich der Selbstbestimmung angeht, so ist ein grundsätzliches Ergebnis, abgesehen von Textstellen in allen möglichen Präambeln zu menschenrechtlichen oder sozialen Dokumenten, in den Artikeln 1 der beiden Menschenrechtspakte – der Konvention über die wirtschaftliche, sozialen und kulturellen Rechte und der Konventionen über die bürgerlichen und politischen Rechte (UN GV Res. 2200 A XXI) – zu finden. Obschon beide Pakte bis heute noch nicht in Geltung getreten sind – Österreich hat sie im Dezember 1973 unter dem in Menschenrechtsfragen bewährten Ausschluss der Öffentlichkeit unterzeichnet -. kommt ihnen hoher politischer Wert und große Aussagekraft über die Weltmeinung hinsichtlich der Selbstbestimmung zu. Die entsprechenden Stellen der Pakte (Art. 1 Abs. 1) haben folgenden Wortlaut: «Tous les peuples ont le droit de disposer d’eux memes. En vertu de ce droit, ils determinent librement leur statut politique et assurent librement leur developpement economique, social et culturel.» (zu deutsch: Alle Völker haben das Recht der Selbstbestimmung, Kraft dieses Rechts bestimmen sie frei ihren politischen Status und sichern sich frei ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu.»
13.Der Wortlaut dieser Textstellen ist nur scheinbar klar; obwohl sich nahezu 120 Staatsdelegationen mit diesem Text in der Generalversmmlung einverstanden erklärten, legen viele von ihnen den Worten unterschiedliche Bedeutung bei. Das wird vor allem literarisch durch die Darstellung der verschiedenen Auffassungen über die Selbstbestimmung nachgewiesen (Kloß, Herausgeber; Boris Meissner/Veiter). Das beweist von der UNO-Warte her aber auch die Zusammenstellung der verschiedenen Auffassungen, die zum Selbstbestimmungsrecht geäußert wurden.. Sie sind im UN-Doc. A/2929 zu finden. Dieses Dokument ist eine Note des Generalsekretärs, die der X. Tagung der Generalversammlungbder Vereinten Nationen zu ihrem Tagesordnungspunkt 28, unter den die Menschenrechtspakte im Jahre 1955 behandelt worden sind, unterbreitet wurde. Diese Note enthält einen Bericht über das Verständnis, das dem Text über das Selbstbestimmungsrecht bis zum Jahre 1955 beigelegt wurde. Der Text ist jedoch nicht veraltet. Bis zur endgültigen Schlussfassung über den Text im Jahre 1966 hat sich an denAuffassungen der Mehrheit der Staaten über die Selbstbestimmung wenig geändert. Das Kapitel IV des genannten Dokuments bespricht die Frage, ob Selbstbestimmung als ein politisches Prinzip oder als ein Recht aufzufassen sei; das ist inzwischen zugunsten des Rechtscharakters eindeutig geklärt worden; der Bericht interpretiert die Bestimmungen der Charta zur Selbstbestimmung; er interpretiert die Worte «all people and all nations» ( der Ausdruck «all nations» wurde in die endgültige Fassung des Textes nicht aufgenommen!), er versucht die Bedeutung der Selbstbestimmung zu erhellen; er stellt die Frage nach einer Verpflichtung für alle Staaten; er bespricht die Frage der Souveränität über natürliche Reichtümer und Naturquellen; er stellt schließlich die Selbstbestimmung in ein Verhältnis zu Minderheiten in einem Staate.
14. Das Ergebnis der Arbeit der Organe der Vereinten Nationen über die Frage der Rechtsnatur der Selbstbestimmung war geteilt. Eine Gruppe von Staaten war der Meinung, dass die Selbstbestimmung ein politisches Prinzip, aber kein Recht im normativen Sinne sei; die andere Gruppe vertrat die Auffassung, dass die Selbstbestimmung Recht und Prinzip sei. Der Inhalt der Selbstbestimmung als Recht wird ebenfalls verschieden gedeutet: Man versteht unter ihm das Recht «to local autonomy» oder «to self government» oder das Recht auf Loslösung von einem Staate oder den Anschluss an einen Staat, man versteht darunter das Recht, einen selbständigen Staat zu bilden. Auch die Trägerschaft des Rechtes ist unbestimmt. Es herrscht Unstimmigkeit darüber, ws unter «nations» zu verstehen ist – ob der Staat oder die Völker – oder wer als «peoples» zu begreifen ist. Die einen meinten, dass darunter die Völker jeder Art zu verstehen seien, die anderen meinten, dass darunter vielmehr die verschiedenen Typen der Minderheiten zu begreifen wären; hinsichtlich dieser letzteren wird ausgeführt: «The problem of minorities: A proposal was made that «the State shall ensure to national minorities to use the native tongue and to have the national schools, libraries, museums and othe cultural and educational institutions». This was not adopted. One view was that such a proposal would retard the process of assimilation of immigrants to a new country and prevent the formation of a homgenious society. Another view was that it might bring about a multiplication of barriers and frontiers. (It might be noted that the rights of minorities are dealt with in article 25 of the draft covenant on civil and political rights.)»
15. Unter Berufung auf diese Regeln wurde ein Selbstbestimmungsrecht fürdie afrikanische Bevölkerung von Südrhodesien (Namibia) und Südafrika sowie für die afrikanische Bevölkerung in den portugiesischen Territorien Afrikas, nämlich Mozambique, Angola und Guinea Bissau anerkannt. Die Anerkennung dieser Völker wurde von Organen der Vereinten Nationen mit großer Stimmenmehrheit angenommen. Wesentlich kritischer wird das Selbstbestimmungsrecht des palestinensischen Volkes beurteilt. Wenn man die Unterschiede analysiert, die zwischen der Forderung nach und Anerkenung auf Selbstbestimmung von den afrikanischen Völkern in den genannten Territorien und der Forderung nach Selbstbestimmung des palestinensischen Volkes bestehen, so fällt vor allem auf, dass es sich bei der Selbstbestimmungsforderung der afrikanischen Völker um eine Forderung nach staatlicher Unabhängigkeit handelt, während die Selbstbestimmungsforderung der Palestinenser auf Wiedergewinnung eines Gebietes gerichtet ist, das seinerzeit ohne Bedachtnahme auf das Selbstbestimmungsrecht der Araber einer fremden staatlichen Souveränität zugeführt wurde.. Es handelt sich heute bei dem Selbstbestimmungsrecht der Palestinenser um eine Art «Recht auf Heimat», wie man es im Zuge der deutschen Bewegung für das «Recht auf die Heimat » kennengelernt hatte. Die Staatenwelt hat wohl das Recht der Palestinenser, in ihre Heimat zurückzukehren – vor allem in bezug auf die Flüchtlinge des Sechstagekrieges – betont, hat aber dieses Recht mit der Selbstbestimmung nicht in Verbindung gebracht. Das allerdings hing nicht mit der Frage nach einem gerechten oder nicht gerechten Anspruch zusammen, sondern mit politischen Überlegungen, bei denen die Weltmächte in unterschiedlicher Weise Partei ergriffen haben. Ein anderer Selbstbestimmungsfall, der die Staatenwelt im Jahre 1971/72 bewegte, war die Selbstbestimmungsforderung Ostpakistans als Bangla Desh. Hier wurde die im Zuge der politischen Ereignisse offen ausgesprochene Selbstbestimmungsforderung der Bengalen gegen den Willen eines souveränen Staates schließlich mit kriegerischer Macht in Form einer modernen humanistischen Intervention eines dritten Staates durchgesetzt. Aus der Debatte der Vereinten Nationen über das Selbstbestimmungsrecht ragen Äußerungen der Sowjetunion hervor, die in ihrem territorialen Bezug neu sind. So sprachen Vertreter der UdSSR bei der Debatte über die Selbstbestimmung während der Beratungen im dritten Ausschuss der XXVI. Generalversammlung von einem legitimen Recht der nordischen Bevölkerung auf Selbstbestimmung. Es war die das erste Mal, dass die Sowjetunion die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts außerhalb eines klassischen Dekolonialisierungsprozesses guthieß.
16. Derb zweite markante Rechtsakt der Vereinten Nationen, der sich mit der Selbstbestimmung befasst und dessen Kennrnis zum Verständnis des modernen Selbstbestimmungsrechtes unerlässlich ist, ist die Deklaration über die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten entsprechend der Charta. Diese Deklaration wurde nach vieljähriger Arbeit am 24. Oktober 1970 unter der Nr. 2625 (XXV) angenommen. Sie interpretiert Selbstbestimmung im Lichte des Souveränitätskonzepts. Und zwar lauten die entsprechenden Textstellen 8Übersetzung aus dem Englischen):
«Kraft des Prinzips der Gleichheit der Rechte und der Selbstbestimmung der Völker, aufgenommen in der Charta der Vereinten Nationen, haben die Völker das Recht, ihren politischen Status ohne äußere Einmischung frei zu bestimmen und ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu verfolgen; jeder Staat hat die Pflicht, dieses Recht in Übereinstimmung mit den Regelungen der Charta zu respektieren.
Jeder Staat hat die Pflicht, durch gemeinsame oder getrennte Aktion die Realisierung des Prinzips der gleichen Rechte und der Selbstbestimmung der Völker in Übereinstimmung mit den Vorschriften der Charta herbeizuführen und die Vereinten Nationen bei der Wahrnehmung ihrer Verantwortlichkeit zu unterstützen, die ihnen durch die Charta in Bezug auf die Durchsetzung des Prinzips übertragen sind, um a) freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten herbeizuführen und b) dem Kolonialismus unter Berücksichtigung des frei ausgedrückten Willens der betroffenen Völker ein rasches Ende zu bereiten. Darüber hinaus sollte in Rechnung gestellt werden, dass die Unterdrückung und Ausbeutung sowohl eine Verletzung dieses Prinzips bedeutet als auch die Missachtung der Menschenrechte, was beides gegen die Charta verstößt.
Jeder Staat hat die Pflicht, durch gemeinsame oder alleinige Handlungen allgemeine Achtung für die Beachtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten in Übereinstimmung mit der Charta zu fördern.
Die Errichtung eines souveränen und unabhängigen Staates, der freie Zusammenschluss oder das Aufgehen in einem unabhängigen Staat oder das Aufgehen in einem anderen politischen Status begründen, soweit dies kraft freien Willens des Volkes geschieht, Arten der Anwendung des Selbstbestimmungsrechts der Völker.
Jeder Staat hat die Pflicht, sich jedes Zwangsaktes zu enthalten, welcher Völkern, wie sie oben näher bezeichnet sind, ihr Recht auf Selbstbestimmung, auf Freiheit und Unabhängigkeit nimmt. In ihren Handlungen und im Widerstand gegen solche Unterdrückungsmaßnahmen um ihr Selbstbestimmungsrecht zu verfolgen, sind Völker brechtit, Unterstützung in Übereinstimmung mit den Bestimmungen der Charta zu suchen und zu erhalten.
Das Gebiet einer Kolonie oder eines «Non-Self-Governing-Territory» hat unter der Charta einen eigenen Status und unterscheidet sich vom Gebiet des entsprechenden verwaltenden Staates. Ein derartiger besonderer und getrennter Status gemäß der Charta soll solange fortbestehen, bis die Bevölkerung der genannten Gebiete ihr Recht auf Selbstbestimmung in Übereinstimmung mit der Charta und im besonderen mit seinen Zielen und Grundsätzen ausgeübt hat. Nichts in den vorangegangenen Paragraphen soll so verstanden werden, dass es Handlungen autorisiert oder ermutigt, welche ganz oder teilweise die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit souveräner und unabhängiger Staaten zerstören oder gefährden, vorausgesetzt, dass diese Staaten ihre Geschäfte selbst in Übereinstimmung mit dem Prinzip der gleichen Rechte und der Selbstbestimmung der Völker, wie oben beschrieben, führen und dergestalt eine Regierung besitzen, welche die ganze Bevölkerung eines Gebietes, ungeachtet der Rasse, des Glaubens und der Farbe, repräsentiert.
Jeder Staat soll sich der Handlungen enthalten, die darauf abgestellt sind, die teilweise oder ganze Zerstörung der nationalen Einheit und territorialen Unversehrtheit eines anderen Staates oder Landes herbeizuführen.»
17. Wenn man diese Textstellen sorgfältig analysiert, so tragen sie zur Klarstellung des Selbstbestimmungsprinzips zwar nicht alles, aber manches bei. Vor allem ist die Abstufung der Erscheinungsformen der Selbstbestimmung bedeutsam. Damit wird im Gegensatz zur Ära Launs – Laun ist durch seine Preisschrift als der große Dogmatiker der Zwischenkriegszeit von Volk und Nation zu bezeichnen – eine größere Variationsbreite der Selbstbestimmung anerkannt. Politisch bedeutet dies, dass man sich nicht allein zur Selbstbestimmung als Staatsentscheid, sondern auch zur Selbstbestimmung als wiederholbarer Akt bekennt. Ebenso beachtenswert ist die Betonung des Widerstandsrechts und der aus dem Text zu erschließende Vorbehalt, dass durch die Selbstbestimmung die Integrität nicht demokratisch strukturierter Staaten gefährdet erscheinen könnte. Dennoch beseitigt das so etablierte Prinzip nicht die Unklarheiten, die nach wie vor mit dem Selbstbestimmungsrecht verbunden sind; was bedeutet das Wort «Volk», was bedeutet die Aussage, dass von einem Selbstbestimmungsrecht nur die Rede bleibt durch die Vorbehaltsklauseln und durch die Verweise auf die Charta die wichtige Frage des Verhältnisses dieses Prinzips zur «domestic jurisdiction clause» des Art. 2 § 7 der Charta unbestimmt.
Vor allem, wenn man die Festlegung des Widerstandsrechts unter die Lupe nimmt, nach der das betroffene Volk Unterstützungen suchen und solche erhalten soll – dies im Einklang mit der Charta -, so kann man sich schwerlich vorstellen, dass solche Unterstützungen nicht auch von Staaten gefordert werden dürften. Andererseits jedoch sind alle anderen Prinzipien der Deklaration so souveränitätsbedacht konstruiert, dass das formulierte Prinzip auf Selbstbestimmung einer Antimonie gleicht. Vor allem ist die allgemeine Klausel am Ende der Deklaration, die gebietet, dass die Prinzipien nur in ihrem Zusammenhang verstanden werden dürfen, so zu deuten, dass die Selbstbestimmung und ihre Anwendung nicht ohne Berücksichtigung der übrigen Bestimmungen der Erklärung interpretiert werden dürfen.
18. Was bedeutet aber diese Einschränkung für die Interpretation des Prinzips der Selbstbestimmung? Um die Deklaration und ihre Bedeutung für die Selbstbestimmung gut zu verstehen und Interpretieren zu können , muss ihre Entstehungsgeschichte näher untersucht werden. Es ist hier nicht der Raum, eine alle Verästelungen der Entstehungsgeschichte verfolgende Untersuchung anzustellen. Ich verweise auf meinen Beitrag in der Laun-Festschrift.
Wenn man nun das von der Deklaration mühsam erarbeitete Selbstbestimmungsprinzip unter Heranziehung der einzelnen Materialien näher untersucht hat, so kann folgendes zusammenfassend ausgesagt werden:
a) Das Prinzip wird als eine Ausführung der Charta angesehen, ohne dass mit ihr eine Aussage über den Rechtscharakter der Selbstbestimmung getroffen worden wäre;
b) das Selbstbestimmungsprinzip steht in engem Zusammenhang mit den übrigen Prinzipien der Deklaration, allen voran mit den Aussagen über die staatliche Unabhängigkeit;
c) das Selbstbestimmungsprinzip ist Mittel und Ausführung der Menschenrechte;
d) Das Selbstbestimmungsprinzip betrifft vor allem den Entkolonialisierungsprozess oder berührt vornehmlich nichtdemokratisch organisierte Staaten;
e) Die Selbstbestimmung ist nicht mehr allein auf staatliche Unabhängigkeit gerichtet; auch die Selbstregierung ist Ausdruck der Selbstbestimmung.
Im Hinblick darauf, dass das Selbstbestimmungsprinzip in der Erklärung von Überlegungen eingerahmt ist, die ausschließlich auf die Sicherung der staatlichen Souveränität bedacht sind, wird die Tragweite des Selbstbestimmungsprinzips als äußerst begrenzt, wenn nicht gar als pervertiert angesehen werden müssen. Hinsichtlich des Entkolonialisierungsprozesses hingegen hat das Selbstbestimmungsprinzip einen ganz sicheren Grund. In jeder anderen Beziehung ist die Effektivität und Effektivierung des Prinzips wesentlich von der souveränen Entscheidung des jeweiligen Staates abhängig. Wenn es keine dritten Mächte und keine internationale Organisation gibt, die sich der Anwendung des Selbstbestimmungsprinzip annehmen, so wird es von der souveränen Entscheidung des jeweils betroffenen Staates abhängen, wie er das Selbstbestimmungsprinzip anwendet; die Erklärung ist so weit gefasst, dass jede Nichtachtung des Prinzips, sieht man vom Bezug auf den Entkolonialisierungsprozess ab, in ihr Deckung finden kann. Zukunftsweisend ist jedoch, dass die sich mit der Erarbeitung der Deklaration befassende Spezialkommission von politischer und juristischer Warte her das Selbstbestimmungsprinzip eingehend analysiert und eine Reihe wichtiger Probleme, die mit der Selbstbestimmung im Zusammenhang stehen, herausgearbeitet hat. Beachtenswert an der Arbeit der Spezialkommission ist, dass sie grundsätzlich nicht von einem SelbstbestimmungsRECHT der Völker spricht, sondern von der Selbstbestimmung; damit wird die Rechtsfrage, wie sie durch die Pakte klargestellt wurde, an keiner Stelle weiter verfolgt. Es wird vor allem das Verhältnis des Selbstbestimmungsprinzips zum Selbstbestimmungsrecht, wie es im Art. 1 der Pakte normiert ist, an keiner Stelle näher erörtert.
Unmissverständlich wird aber eine Beziehung der Selbstbestimmung unterstrichen, die im Jahre 1948, als man über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Beschluss fasste, noch offen blieb: Das Verhältnis von Menschenrechten und Selbstbestimmung. Wie A. Hu-Chou-Joung herausgearbeitet hat ist das Selbstbestimmungsrecht Voraussetzung für den Genuss aller Menschenrechte. Das ergibt sich nicht nur aus der systematischen Stellung der Regeln über das Selbstbestimmungsrecht in den Pakten, an deren Spitze, sondern auch daraus, dass ohne die Freiheit eines Gemeinwesens seinen Status zu bestimmen, die Freiheit des einzelnen in diesem Gemeinwesen von vornherein nicht garantiert scheint. Ob die auf die Selbstbestimmung gegründete Unabhängigkeit eines Staates ein ewiger Garant für die Menschenrechte ist, kann im Hinblick auf die Erfahrungen in der Staatengeschichte nicht gesagt werden.
19. Es muss einer umfassenden Spezialuntersuchung vorbehalten bleiben, die Tragweite der Aussagen der Deklaration über die Selbstbestimmung vollkommen zu durchleuchten. Sicher ist, dass die Selbstbestimmung im Gegensatz zu jener Zeit, auf die die grundlegenden Untersuchungen Launs bezogen sind, als universelles Prinzip anerkannt ist. Der Inhalt dieses Prinzips ist aber auch nach dieser Erklärung noch nicht eindeutig. Doch ist die Anerkennung des Prinzips eine weiterer Fortschritt. Allerdings erscheint dieser Fortschritt in neuem Licht, wenn man nach Verfolgung des Werdegangs der Deklaration die Überlegung anstellt, dass die Deklaration nicht mehr und nicht weniger als Prinzipien der «friedlichen Koexistenz» aufstellt und damit einen eminenten politischen Effekt erreicht, der weit über die Normativität des Völkerrechts hinausgeht. Die Deklaration stellt politische Prinzipien internationaler Beziehungen auf. Die Selbstbestimmung, so wie sie, «mehrdeutig» detailliert, in der Deklaration verstanden wird, ist aber dann ein Element der friedlichen Koexistenz!
Das also ist der Stand der Praxis: Eine Variationsbreite des Anwendungsfaktes der Selbstbestimmung, ein von den Vereinten Nationen anerkanntes Recht auf Selbstbestimmung. Die einzelnen Elemente der Selbstbestimmung jedoch müssen im einzelnen Fall «ausinterpretiert» werden.
…. Fortsetzung folgt!
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