Entnommen aus dem Buch von Uwe Klußmann und Dietmar Pieper, Die Herrschaft der Zaren, aus dem Jahr 2012
Alexander Rahr, geboren 1959, stammt aus einer Familie russischer Emigranten und war bis Juni 2012 Leiter des Berthold-Beitz-Zentrums in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. In seinem Buch >Der kalte Freund – Warum wir Russland brauchen< analysiert er vor dem Hintergrund der Geschichte die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen des Landes.
Spiegel: Der russische Präsident, der jetzt wieder Wladimir Putin heißt, residiert im Kreml, dem alten Moskauer Machtzentrum. Wenn er seine Weisung erteilt, ist das ein >Ukas< wie zur Zarenzeit. Wie zaristisch ist Russland heute?
Rahr: Putin ist ein Zar, und er sieht sich wie ein Zar. Am Anfang war das noch anders. Ich hatte zu Beginn seiner ersten Amtszeit als Präsident im Jahr 2000 die Gelegenheit, drei Stunden mit ihm zu Abend zu essen. Er sprach davon, Russland sei ein Land mit schrecklichen autoritären Traditionen. Dies könnte man ändern, wenn auch langsam. Sein Kernsatz war: Ich, Wladimir Putin, denke modern und will, dass das Präsidentenamt nach meiner Regierungszeit auf demokratische Weise den Besitzer wechselt.
Spiegel: War Demokratisierung damals wirklich sein Ziel?
Rahr: Es wirkte überzeugend, was er sagte. Aber seitdem sind zwölf Jahre vergangen, die ihn sicher sehr verändert haben. Aus Sicht des Historikers ist das keine große Überraschung. Denn Machtwechsel in Russland sind nie in geordneten Bahnen verlaufen, fast nur mit Gewalt. Wer abtrat, wie Nikolai II., konnte seines Lebens nicht mehr sicher sein. Personifizierte Macht war und ist in Russland etwas Sakrales, das mehr wiegt als Institutionen. Deshalb kommt es eigentlich nicht in Frage, sie freiwillig abzugeben. Wer dies dennoch tut wird von den meisten Menschen in Russland verachtet. Wer die Macht abgibt, ist ein Verlierertyp, womöglich ein Verräter, der vernichtet werden muss. Auch Putin denkt wohl, dass er die zaristischen Traditionen nicht überwinden kann. Er sieht sich mit dem Schicksal Russlands verknüpft.
Spiegel: Das klingt ja geradezu messianisch.
Rahr: Diese Sicht wäre übertrieben. Ein russischer Zar sieht sich nicht als genialen Weltverbesserer, sondern als jemanden, der das Land stabilisiert und das Zepter in der Hand hält. Außerdem fehlt Putin eine globale Idee. Man kann ihn mit Alexander III. am Ende des 19.Jahrhunderts vergleichen. Auch Putin restauriert Herrschaft und modernisiert auf autoritäre Weise. Er will den Staat seinem Nachfolger stärker hinterlassen, als er ihn vorgefunden hat.
Spiegel: Ist Putin in Umstände hineingeraten, die er nicht ändern konnte? Oder ist er von der Macht berauscht?
Rahr: Ich habe nicht den Eindruck, dass er extrem machthungrig ist. Er ist überzeugt, dass die Stabilität zurzeit an ihm hängt. Das wird einem Präsidenten Russlands natürlich auch durch die höfische Atmosphäre im Kreml nahegelegt. Putin hat sich der alten Idee von Moskau als dem Dritten Rom und Erbe von Byzanz gefügt. Dazu kommt: Er traut seinem Umfeld nicht und duldet keine Nebenbuhler.
Spiegel: Also hatte der zwischenzeitliche Präsident Dimitrij Medwedew nie eine Chance? Manchen im Westen galt er als Hoffnungsträger eines liberalen Russland.
Rahr: Medwedew hat wohl anfangs gespürt, dass er auf dem Thron sitzt und mehr Macht ausüben könnte. Aber nach ersten Reformankündigungen ist er zurückgepfiffen worden und hat sich nicht weiter vorgetraut.
Spiegel: Blicken wir ein Jahrhundert zurück. Am Ende der Zarenzeit war Russland ein sozial tief gespaltenes Land mit einer dünnen Oberschicht und Millionen armen Bauern. Eine korrupte Bürokratie lähmte die Gesellschaft. Ethnischer Nationalismus säte Hass. Ähnelt die jetzige Zeit nicht wieder der am Ende der Monarchie?
Rahr: Dieser Analogie widerspreche ich. Russland war vor dem ersten Weltkrieg durch rasante Industrialisierung drauf und dran, Europa einzuholen. Man hat nur den Fehler gemacht und macht ihn vermutlich heute wieder, einseitig auf wirtschaftliche Entwicklung zu setzen, ohne die sozialen Bedingungen zu verbessern. In Russland muss der Bürger dem Staat dienen. Nicolai II. fehlte das Gespür für seine Untertanen, für die analphabetische Bauernschaft. Die Landwirtschaftsreformen des Premierministers Pjotr Stolypin scheiterten. So endete das Reich in einer Katastrophe.
Spiegel: Die Klage über die Korruption zieht sich über die gesamte Geschichte der Zarenzeit und weiter bis heute. Auch Putin und Medwedew tragen sie gelegentlich vor. Klingt das nicht wie eine Ausrede von Herrschern, die korruptes Verhalten selbst begünstigen?
Rahr: In Russland war die Bürokratie immer der Meinung, dass sie über den Gesetzen steht. Da siegte die Tradition von Byzanz über die des römischen Rechts. Die Korruption kommt oft in der Maske des Menschlichen daher: Man kann mit Geld und Beziehungen Probleme lösen, wenn die Gesetze zu hart sind.
Spiegel: Könnte die Staatsspitze daran etwas ändern, indem sie mit guten Beispiel voranginge?
Rahr: Das wäre der Weg. Die Frage nach der Korruption wird Putin ständig gestellt, auch bei seinen Auftritten vor dem internationalen Expertenclub Waldai, zuletzt auf einem Reiterhof in der Nähe von Moskau. Seine Antworten zeugen von Resignation. Von einem Präsidenten Putin ist im Kampf gegen die Korruption kein Durchbruch zu erwarten.
Spiegel: In Ihrem Buch >Der kalte Freund< beschrieben Sie, wie Putin staatliche Aufgaben an Finanzoligarchen verteilt: Du baust das Olympiagelände in Sotschi, du diesen Hightech-Park, du die Stadien für die Fußball-WM 2018. Das klingt abenteuerlich!
Rahr: Aber genauso ist es. Putin weiß, wie diese Leute zu ihrem Reichtum gekommen sind in den wilden Jahren der Privatisierung. Er könnte ihnen die Steuerpolizei auf den Hals hetzen. Stattdessen lässt er sie in staatlichem Auftrag investieren.
Spiegel: Das ist purer Feudalismus.
Rahr: Russland ist in vieler Hinsicht ein anderer Planet. Das Sowjetsystem hat negative Strukturen eines mittelalterlichen Landes, das nie in der europäischen Gegenwart angekommen war, konserviert und verschlimmert. Da herauszukommen, dauert mindestens zwei Generationen.
Das Interview ist noch mehrfach länger. Wer sich für das gesamte Interview interessiert kann es im oben genannten Buch nachlesen.
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