Sehr geehrter Herr Bundesrat
Sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter des Parlaments
Sehr geehrte Damen und Herren,
Ich wurde gebeten, ein möglichst persönliches Votum zur Frage „Was heisst gerecht wirtschaften?“ abzugeben. Ich komme dieser Aufforderung gerne nach und werde mein Referat nicht in der üblichen Wir-Form, sondern in der Ich-Form abfassen. So will ich von meinen Thesen und meiner Auffassung und nicht von unseren Thesen oder unsere Auffassung sprechen. Zum gestellten Thema in der Wir-Form zu sprechen, käme ja auch einer intellektuellen Nötigung der Zuhörerinnen und Zuhörer gleich. Die Frage nach dem gerechten Wirtschaften hat die Menschen seit jeher beschäftigt. Es ist keine einfache Frage. Auch ich werde Ihnen keine definitive Antwort geben können. Gerade in der Wirtschaft wird der Gerechtigkeitsbegriff zwar oft verwendet: gerechter Preis, gerechter Lohn, gerechte Wettbewerbsbedingungen. Und trotzdem hat es kein Wirtschaftswissenschafter je verstanden, diesen so oft gebrauchten Begriff auch nur annähernd befriedigend zu definieren – übrigens ebenso wenig wie die Theologen und Philosophen.
Ich wollte, ich könnte es mir so einfach machen wie im Sinnspruch: „Es gibt zwei Klassen von Menschen: die Gerechten und die Ungerechten. Die Einteilung ist Sache der Gerechten“. Diese geflügelten Worte klingen zwar gut, sie führen jedoch nicht weiter. Wohl kann ich überzeugt sein, gerecht zu handeln. Wenn ich aber nicht bereit bin, meine Überzeugung zur Diskussion zu stellen, diese täglich mit meinen Mitmenschen zu leben, so ist es mit meiner Gerechtigkeit nicht weit her. Gerechtigkeit existiert nie für mich allein. Gerechtigkeit ist immer im Verhältnis zu meinem Mitmenschen zu verstehen. John Stuart Mill, für mich ein Vorbild, hat einen ähnlichen Gedanken in seinem epochalen Werk „On Liberty“ (1859) treffend formuliert. Mill tritt für grösstmögliche Freiheit des Individuums ein. Doch hat diese Freiheit Grenzen, nämlich dort, wo das Tun eines Menschen einem anderen schadet.
Hier meine erste These, in Anlehnung an Mills: Freiheit ohne Gerechtigkeit gibt es nicht! Die These stimmt übrigens auch umgekehrt. Gerechtigkeit ohne Freiheit gibt es nicht. Freiheit bedeutet somit, die Wirkung meines Tuns auf die andern zu beachten. Sie bedarf des Verständnisses für den andern, ja des Mitgefühls mit ihm. Auf diesem Verständnis für Gerechtigkeit baut die christliche Religion auf, nämlich auf dem absoluten Gebot der Nächstenliebe.
Doch ich weiss aus dem Alltag nur zu gut, dass ein Leben nach diesem Gebot nicht einfach ist. Die christliche Religion deutet nicht nur darauf hin, dass der Vorteil vom gerechten Handeln für mich etwa gleich gross ist wie für meinen Mitmenschen – siehe das Gleichnis vom barmherzigen Samariter – sondern besagt, dass gerade der Benachteiligte der Gewinner sein wird. Die Bergpredigt stellt klar, wer letztlich die Seligen sein werden, nicht die Reichen an Geld oder Geist, sondern die Armen, deren Weg steinig und mühselig war. Doch selbst dort, wo das Gebot der Nächstenliebe einfach zu erfüllen wäre, fällt es mir persönlich manchmal schwer, dieses zu befolgen, – vielleicht, weil ich es in dem Moment gar nicht will, vielleicht, weil es mir in dem Moment zu unbequem ist. Wie sagt es Wilhelm Busch? Ach, der Tugend schöne Werke, gern möchte ich sie erwischen. Doch ich merke, immer kommt mir was dazwischen. Die Frage nach dem gerechten Wirtschaften stellt sich für die Politik und insbesondere die Wirtschaftspolitik zunächst gegenüber dem eigenen Land und seiner Wirtschaft. Ich, als einer der wirtschaftspolitischen Verantwortungsträger, habe mich vorab um die Schweizer Wirtschaft zu kümmern. Diese wiederum ist aber Teil der Weltwirtschaft. Die Aussendimension der schweizerischen Wirtschaft zu überschätzen, ist fast nicht möglich. Sie ist es, welche der Schweiz einen im Weltmassstab sehr hohen Wohlstand gebracht hat. Entsprechend kann es mir nicht gleichgültig sein, was in der Welt geschieht.
Diese Welt wächst seit Jahrhunderten zusammen. Bis in die 50er Jahre sprach man von den Kolonialmächten und den Kolonialgebieten. Nach der Unabhängigkeit zahlreicher Länder war von Interdependenz zwischen dem Norden und dem Süden die Rede. Im Unterschied zur damaligen Interdependenz ist die heutige Globalisierung durch neue Entwicklungen gekennzeichnet: eine rasche Reihe umwälzender Verbesserungen in den Informations- und Telekommunikationstechnologien. Es ist viel einfacher als früher, eine Produktion auch an entlegene Standorte zu verlagern und dennoch zentral zu koordinieren. Dadurch wurde eine eigentliche Internationalisierungswelle bei zahlreichen Unternehmen ausgelöst. Denn auch ein KMU muss heute über die nationalen Grenzen hinweg blicken, um gegenüber der ausländischen Konkurrenz auf dem Binnenmarkt zu bestehen oder selber erfolgreich zu exportieren. Und schliesslich haben die breiten wirtschaftspolitischen Liberalisierungsinitiativen der Weltwirtschaft den Eintritt von zusätzlichen, grossen, in der Vergangenheit mehr oder weniger abgeschotteten Produzenten und Konsumenten beschert. Besonders spektakulär illustriert sich dies heute am Beispiel Chinas und Indiens. Der Globalisierungsprozess ist weiterhin voll im Gange und wird auch in den nächsten Jahrzehnten eine laufend erneuerte Dynamik in der Weltwirtschaft entfalten. Aussergewöhnliche Wachsamkeit und Behändigkeit der Behörden und der Unternehmen sind angebracht. Weitreichende Chancen grenzen an ebenso ernst zu nehmendeRisiken. Einschlafen ist verboten. Jede Verschiebung im Gesichtsfeld ist sofort aufzunehmen, zu analysieren und zu interpretieren. Immer wieder ist rasch und entschieden zu handeln. Versäumnisse kommen sonst in Form von grossen wirtschaftlichen Verwerfungen, Verlusten, Zusammenbrüchen oder anderen „Groundings“.
Für die Wirtschaftspolitik der Eidgenossenschaft heisst gerechtes Wirtschaften vorerst die Beachtung der Interessen unseres Landes. So will es die Verfassung in ihrem Zweckartikel (BV Art. 2). Nicht von ungefähr lautet der Kompetenzartikel (BV Art.101) im Aussenwirtschaftsbereich kurz und bündig „Der Bund wahrt die Interessen der schweizerischen Wirtschaft im Ausland“. Damit ist klar: Die Wirtschaftspolitik der Schweiz muss alles unternehmen, um demLand, seiner Bevölkerung und den zukünftigen Generationen die Selbstbehauptung im Wettbewerb der Nationen zu ermöglichen. Jeglicher Diskriminierung unserer Exporte von Gütern und Dienstleistungen ist zu begegnen. Bezüglich verschiedener denkbarer Zukunftsszenarien sind möglichst alle unsere Chancen zu wahren. Keine andere Instanz der Welt nimmt unseren Behörden diese Aufgabe ab. Globalisierung hat nämlich mehrere Gesichter. Sie schafft Aussichten auf neue Absatzmärkte, grössere Waren- und Dienstleistungssortimente und qualitativ bessere Produkte für den Konsumenten. Sie kann aber auch die Verlagerung von Unternehmen und den Arbeitsplatzverlust bedeuten, mit den entsprechenden sozialen Konsequenzen. Wir müssen somit darauf bedacht sein, ständig die notwendigen Strukturanpassungen vorzunehmen und ein innovationsfreundliches Klima zu schaffen. Nur so bleiben wir wettbewerbsfähig. Protektionismus wäre die falsche Antwort. Er ist nicht nur ungerecht gegenüber den Ländern, die neu auf den Weltmarkt stossen und sich dadurch wie wir Wachstum und Wohlstand erhoffen, sondern führt über kurz oder lang zu einer Zerreissprobe innerhalb unserer Gesellschaft und zu einem noch grösseren und schmerzhafteren Anpassungsprozess. Die seit dem zweiten Weltkrieg vom Staat betriebene, nicht unbedingt förderliche Schutzpolitik im Landwirtschaftsbereich bietet guten Anschauungsunterricht verpasster Erneuerungen. Entsprechend hoch ist der Grad an Strukturbereinigung, den wir von unseren Landwirten erwarten, und der Druck, der auf ihnen lastet. Letztlich besteht die beste Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung nicht in Protektionismus, sondern in der Annahme der Herausforderung, in einer konsequenten Weiterführung der Politik des qualitativen Wirtschaftswachstums.
Wirtschaftswachstum erleichtert nämlich wesentlich unser Streben nach Gerechtigkeit. In einer wachsenden Wirtschaft, in der alle – Wohlhabende, Mittelstand und weniger Bemittelte – vom Zuwachs profitieren, sind Einkommensdifferenzen gesellschaftlich weniger problematisch als in einer Stagnation oder gar Rezession. John Rawls hat dies in seiner 1971 vorgelegten „Theorie der Gerechtigkeit“ dargelegt: Führt eine ungleiche Verteilung von Einkommen dazu, dass es auch den Ärmeren besser geht, als wenn alle gleich viel erhielten, ist das Ergebnis gerechter. Das Prinzip hat auch heute seine Relevanz: Wirtschaftssysteme schaffen dann den besseren Ausgleich zwischen Arm und Reich – und so grössere Gerechtigkeit –, wenn die Gewinne der Reichen auch den Armen zum Vorteil gereichen.
Die Aussage „Wirtschaftswachstum erleichtert wesentlich unser Streben nach Gerechtigkeit“ ist unumstritten. Ich gehe jedoch einen Schritt weiter und erkläre: Gerechtigkeit ohne Wirtschaftswachstum gibt es nicht! Diese Aussage hingegen ist umstritten. Tatsächlich haben die Wirtschaftstheorie ebenso wie die Sozial- und Religionswissenschaften Wirtschaftssysteme erdacht, die auch bei Stagnation und Depression eine gewisse Gerechtigkeit garantieren sollen. Doch, nennen Sie mir ein Beispiel, nur eines, wo eine demokratisch gewählte Regierung über längere Zeit ohne Wachstum überlebte? In einer Demokratie führen Stagnation und Depression zu starken politischen Gereiztheiten, ausgelöst durch Verteilkämpfe, sozialem Missstand und Spannungen zwischen Zentrums- und Randregionen. Auch wenn die Theorie es uns glauben macht, die Praxis beweist: Soziale Gerechtigkeit ohne Wachstum bleibt Illusion. Diese These stimmt übrigens auch für Länder mit undemokratischen Regierungen. Zwar waren sowohl China als auch die Sowjetunion sehr dem Wachstumsgedanken verpflichtet. Sie stellten dem Kapitalismus den Sozialismus und der Marktwirtschaft die Planwirtschaft entgegen. Diese grosse ideologisch geprägte Auseinandersetzung endete in bürokratischer Verstrickung und wirtschaftlicher Lähmung durch Mangel an Freiheit und Entfaltungsmöglichkeiten. Auch das staatliche Eigentum an Produktionsmitteln und die zentrale Lenkung der Wirtschaft sind keine Garantien für Gerechtigkeit. Die privilegierten Staatsoberschichten erliegen in solchen Systemen nur allzu leicht der Versuchung der Selbstbedienung. Erst mit der Öffnung Chinas durch Deng Xiaoping und dem Fall der Berliner Mauer im Ostblock wurde der Weg für Wachstum und Wohlstand geebnet. Wachstum ist somit wichtig. Auch das Gleichnis von den Talenten, die man nicht vergraben soll, zeigt in diese Richtung (Lk 19:11-27 oder Mt 25: 14-30). Wachstum allein ist jedoch keine hinreichende Bedingung für Gerechtigkeit. Das christliche Liebesgebot verlangt, wie schon erwähnt, das Wohl des Nächsten ebenfalls zu berücksichtigen. Das marktwirtschaftliche System jedoch gestattet über das Privateigentum und den Wettbewerb eine individuelle Einkommensmaximierung. Für den Unternehmer ist der Gewinn der ökonomisch zweckrationale Massstab für den Erhalt und die Weiterentwicklung seines Unternehmens, auch wenn dadurch seine Konkurrenten aus dem Markt geworfen werden. Ist dies mit dem Gebot der Nächstenliebe vereinbar? Die christliche Religion tut sich mit dieser Frage schwer. Vermutet wird, der Gewinn gehe auf Kosten Dritter. Das Gewinnstreben steht unter Verdacht, mit Ungerechtigkeit einherzugehen und damit moralisch anrüchig zu sein.
Die Bibel kritisiert indes nicht das Eigentum oder das Gewinnstreben an sich. Im Lukas-Evangelium steht sogar: „Und ich sage euch: Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, damit, wenn er zu Ende geht, sie euch aufnehmen in die ewigen Hütten“ (Lk 16:9). Es ist nicht an mir, diesen selten zitierten Ausspruch Jesu zu interpretieren, der auf den ersten Blick gar die Gewinnsucht zu rechtfertigen scheint. Tatsache ist, dass die Bibel das Horten von Eigentum und ein übertriebenes Gewinnstreben immer wieder geisselt. Wie heisst es doch: „Seht an und hütet euch vor Habgier, denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat“ (Lk 12:15) In diesem Zusammenhang ist die Diskussion um die hohen Managerlöhne aktuell. Diese stossen bei weiten Teilen der Bevölkerung auf Unverständnis. Sie belasten nicht nur das Verhältnis zwischen den Sozialpartnern, sondern spalten auch die Unternehmerschaft. Hier erreichen wir tatsächlich Grenzen, wo der Staat und die Gesellschaft gefordert sind, Rahmenbedingungen zu definieren, die solchen Auswüchsen Grenzen setzen. Nicht von ungefähr will der Vorsteher des EJPD deswegen das Aktienrecht ergänzen. Meines Erachtens sind es jedoch in erster Linie die betroffenen Manager selbst, die sich ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung Rechenschaft geben müssen. Es ist unbestritten, dass sie ihre Unternehmen ausgezeichnet führen und dafür entsprechend belohnt werden sollen. Sie profitieren aber auch von einem guten Ausbildungssystem in unserem Land, das ihnen qualifizierte und motivierte Mitarbeitende zur Verfügung stellt; von wirtschaftlichen Bedingungen, welche die Schweiz in der Spitzengruppe der Nationen platziert; von sozialem Frieden, geringer Inflation, öffentlicher Sicherheit und einer Infrastruktur, die ihresgleichen sucht. Es muss daher angenommen werden, dass die hohen Löhne, die einige Manager beziehen, auch auf Faktoren auf bauen, die nicht von einem einzelnen, sondern von der Gesamtheit der Bevölkerung erwirtschaftet werden. Diese Rente des Erfolgs der Marke „Schweiz“ gehört allen. Die Stärke dieses Landes ist schliesslich auch seine starke Mittelschicht, die Reichtum akzeptiert und Armut bekämpft. Sie legt an der Urne meist eine überlegte, wenig von Emotionen geprägte Stimme ab und liefert so ein stabiles Fundament für unseren marktwirtschaftlichen Konsens. Das Deutsche Grundgesetz drückt diesen Gedanken treffend aus: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen“ (GG Art. 14.2). Nicht zuletzt gehört zum Wachstum neben der Komponente Verteilung auch der Schutz der Umwelt. Ich kenne zwar die Grenzen des Wachstums nicht. Bisher vermochte der technologische Fortschritt diese Grenzen immer weiter hinauszuschieben. Ich weiss jedoch, dass ein unkontrolliertes Wachstum zur grenzenlosen Ausbeutung der Natur führt, mit ungerechten Auswirkungen auf die kommenden Generationen. Das entscheidende Stichwort ist deshalb Nachhaltigkeit. Eine nachhaltige Entwicklung erfordert Formen des Fortschritts, welche die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigen, ohne die Fähigkeit der zukünftigen Generationen zu beeinträchtigen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen (Brundtland). Leider gilt immer noch, was der Business Council for Sustainable Development 1992, im Vorfeld des Gipfels von Rio feststellte: Wir kompromittieren weiterhin das Schicksal der kommenden Generationen und handeln ihnen gegenüber ungerecht. Ich möchte deshalb meine apodiktisch vorgetragene Aussage „Gerechtigkeit ohne Wachstum gibt es nicht“ qualifizieren: Gerechtigkeit gibt es, wenn ein Wachstum besteht, das sowohl auf eine ausgewogene Verteilung bedacht ist als auch die beschränkten Ressourcen unserer Umwelt berücksichtigt! Umgekehrt formuliert: Wirtschaftsordnungen, welche Allokation und Ressourcen nicht berücksichtigen, haben kurze Beine.
In Anlehnung an J. S. Mill habe ich zu Beginn meines Referats festgestellt: Wirtschaftliche Gerechtigkeit besteht darin, so zu handeln, dass es meinen Mitmenschen auf jeden Fall nicht schadet. Daraus lässt sich ableiten, dass der Bund zwar durchaus verfassungsgemäss die Interessen der schweizerischen Wirtschaft im Ausland zu wahren hat. Er muss dabei sein Handeln aber so ausrichten, dass es dem ausländischen Partner nicht schadet. Dies ist nicht selbstverständlich, denn was als gerecht für die Schweiz erscheinen mag, ist es nicht unbedingt für die Welt. Über den latent vorhandenen verdeckten oder offenen Protektionismus habe ich bereits gesprochen. Im Aussenwirtschaftsbericht 2004 hat der Bundesrat seine Aussenwirtschaftsstrategie präsentiert. Nicht von ungefähr ist der dritte Pfeiler in seiner Strategie – neben einem funktionsfähigen Binnenmarkt und dem Marktzugang zum Ausland – die wirtschaftliche Entwicklung in Partnerländern. Dabei ist nicht in erster Linie die wirtschaftliche Entwicklungszusammenarbeit in Form von Hilfsgeldern gemeint. Ohnehin werden nur 0,4 % des BIP für Entwicklungs-Zusammenarbeit aufgewendet. Gemeint ist vor allem die Festlegung eines internationalen Handelsregimes, das den Bedürfnissen der ärmeren Länder ebenfalls gerecht wird. Entsprechend wird die gegenwärtig in der Welthandelsorganisation laufende Doha-Runde auch Entwicklungsrunde genannt. Dort wird die „besondere und differenzierte Behandlung“ definiert, die einem Entwicklungsland je nach seinem Entwicklungsstand mehr Rechte gibt und weniger Pflichten auferlegt. Gelingt es nicht, in einer zunehmend wirtschaftlich vernetzten Welt einen besseren Ausgleich unter den Ländern zu finden, werden wir den Anspruch des Titels meines Referats „Was heisst gerecht wirtschaften?“ nicht erfüllen können. Entsprechend lautet meine letzte These: Gerechtigkeit erfordert wirtschaftlichen Ausgleich zwischen den Ländern! Dabei sind nicht nur an Entwicklungshilfe und adaptierte Handelsregeln zu denken. Viele ärmere Länder haben keinen ausgebauten Rechtsstaat wie wir. Deshalb ist es notwendig, dass wir Verhaltensweisen, die das Schweizer Recht ächtet, auch dann unter Strafe stellen, wenn sie im Ausland geschehen, wie dies zum Beispiel bei der Korruption der Fall ist. In anderen Bereichen empfiehlt die Schweiz ihren Unternehmen die weltweite Beachtung von grundlegenden Normen, wie sie u.a. die OECD festgelegt hat. Diese Massnahmen können das Rechtsbewusstsein, ja vielleicht sogar das Bewusstsein für Gerechtigkeit, grenzüberschreitend fördern.
Ich fasse zusammen: Wirtschaften ist kein Nullsummenspiel. Es gibt Gewinner und Verlierer. Eine liberale Wirtschaftsordnung, internationale Arbeitsteilung, Konkurrenz und Wettbewerb haben das Potenzial, mehr Gewinner als Verlierer zu produzieren. Unser Bestreben muss es sein, dass alle gewinnen. Darauf hat Wirtschaftspolitik letztlich ausgerichtet zu sein.
Die Präambel unserer Bundesverfassung trifft den Nagel auf dem Kopf; ich lese: „Im Namen Gottes des Allmächtigen!
- in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung
- im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken,
- im Willen, in gegenseitiger Rücksichtsnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben,
- im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen,
- gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen.“
Dem ist wahrhaftig nichts beizufügen.
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