Vor 110 Jahren:
- war das Britische Empire noch in voller Blüte – aber schon wegen zu erwartender Unabhängigkeitsbestrebungen seiner Kolonien besorgt;
- Frankreich grollte noch (mit dem seit 1870 geschaffenen deutschen Reich) über das im deutsch-französischen Krieg verlorene Elsass-Lothringen;
- Deutschland war als größte und erfolgreichste europäische Binnenwirtschaftsnation und «Wirtschaftsaufsteiger» Europas dabei, die Welthandelsnation Großbritannien und ‘Gebieterin über die Weltmeere’ ( mit einem immensen kolonialen Absatzmarkt) wirtschaftlich zu überholen;
- die aufstrebende USA standen in den Startlöchern, Großbritannien von seinem Thron als wichtigste Welthandelsnation zu verdrängen;
- die KuK-Monarchie Österreich-Ungarn drohte an inneren Spannungen auseinander zu fallen, was sich Russland zunutze machen und auf dem Balkan ausdehnen wollte.
In dieser Situation taten sich britische, französische, amerikanische und russische Geschäftsleute und politische Eliten zusammen und verfolgten ihre Ziele auf Kosten der Deutschen. Mir ist bewusst, dass die jeweiligen Sieger eine andere Geschichte erzählen, und zwar die übliche «Geschichte der Sieger».
110 Jahre danach ist es Zeit, die ‘ungefärbte’ Geschichte an sich zu erzählen ohne sie durch nationale Brillen wahrzunehmen.
Die Diskussion ist eröffnet.
Folgendes muss ich allerdings «gestehen». Am Tag VOR meinem Frühstück … und den oben festgehaltenen Reflexionen … hatte ich folgende Zeilen des schottischen Geistlichen und Historikers Peter M. Nicoll gelesen. Seine Feststellungen hatten mich in der Nacht irgendwie doch nicht so recht schlafen lassen. Hier das einleitende Kapitel aus Nicolls Buch «Englands Krieg gegen Deutschland»:
«Die Saat zur Auseinandersetzung wird gelegt»
Ein großer geschichtlicher Vorgang kann, wenn überhaupt, selten auf endgültige und absolute Ursachen zurückgeführt werden, da diese vielfältiger Natur sind. Sie setzen sich aus jeweils unbedeutenden Geschehnissen zusammen. Aber man kann, ja, muss sich von der Pedanterie freimachen können, einen bestimmten Zeitpunkt und in ihm die entscheidenden Faktoren herauszugreifen. Ein Buch, wie das vorliegende, muss ohne Frage auf den Versailler Vetrag zurückgreifen; denn er war epochemachend und hat Europa, Amerika, ja die Gesamtheit der Nationen in Mitleidenschaft gezogen.
Der unglückselige, ja unheilvolle Mangel dieses Vetrages und seines Geschöpfes, des Völkerbundes, war der: Er strebte zwar mit seinen vor aller Welt verkündeten Absichten nach erhabenen Zielen, aber er schien es bewusst darauf anzulegen, praktische jede Möglichkeit der Verwirklichung zu vereiteln. Präsident Wilsons Bemühungen, einen Geist und einen Apparat zu schaffen, um künftige Kriege durch eine unparteiisch gerechte Behandlung aller durch den von ihm vorgeschlagenen Völkerbund zu verhindern, wurden schon von Anbeginn vereitelt. Die Weigerung seines eigenen Landes, sich an seinem Völkerbund zu beteiligen, war einer der Faktoren; ein noch schwerwiegenderer Faktor war der Versailler Vertrag selbst.
Die Vertragsklauseln belegten, kurz gesagt, einen geschlagenen Feind mit drastischen Strafen; sie raubten ihm seine überseeischen Besitzungen und – was viele immer noch nicht wissen – beinahe über ein Achtel seines seines Landes auf dem europäischen Kontinent. Sie luden ihm die Last so schwerer Reparationen auf, dass Jahre voller Arbeit und Mühe auf die Entwicklung von Methoden verwandt werden mussten, um den Besiegten zum Zahlen zu zwingen, nachdem die Alliierten es ihm nahezu unmöglich gemacht hatten, ihren Forderungen nachzukommen. Zu seiner Einkreisung wurden neue souveräne Staaten geschaffen. Die Sieger zwangen das besiegte Deutschland, ein Dokument zu unterzeichnen, das die Erklärung enthielt, es und nur allein trage die Schuld an jenem Ersten Weltkrieg mit 10.000.000 Toten, fast 50.000.000 Verletzten, seinen Materialverlusten und seinem unaussprechlichen menschlichen Elend.
Die deutschen Vertreter standen vor der Alternative: entweder unterschreiben oder ihre Nation langsam zugrunde gehen sehen. Die Waffen waren Hunger und Unterernährung. Über sechs Monate lang nach dem Waffenstillstand von 1918 blockierten die Alliierten die deutsche Küste und ließen nicht ein einziges Brot hinein. Etwa 800.000 Menschen sind das Opfer dieser Nachkriegsblockade geworden. (Eine Zwischenfrage stellt sich uns als Autoren des Catracho/selbstbestimmt leben-Artikels: Ein erpresstes Geständnis darf doch nach internationalem Recht nachträglich widerrufen werden, oder?)
Dass die Anklage der Kriegsschuld eine Lüge war, ist von vielen wie Lord Loreburn schon im Jahre 1919 erkannt worden. Wie konnte ein gebildeter Mensch ernsthaft in Versailles behaupten, dass ein Staat, Deutschland, allein für den Krieg verantwortlich zu machen sei? Die Welt wusste oder hätte wissen müssen, dass der Kaiser erst mobil gemacht hatte, NACHDEM Russland die Generalmobilmachung befohlen und Österreich offen mit Krieg bedroht hatte für den Fall, dass Österreich seine berechtigten Forderungen an Serbien durchsetzen würde; dass England, ohne unmittelbar an dem Streit interessiert (besser übersetzt wäre wohl «involviert», Catracho-Redaktion) zu sein, ein Ultimatum an Deutschland sandte, als letzteres dann von Frankreich als Alliiertem des Zaren bedroht wurde. Das britische Ultimatum betraf die Neutralität Belgiens und die nordwestlichen Häfen Frankreichs, und vielen schien es natürlich, dass Endland diesen Schritt tat. Doch John Morley und John Burns haben uns berichtet, dass das britische Kabinett schon den Krieg beschlossen hatte, ehe die belgische Frage überhaupt zur Sprache kam.
Deutschland bot an, Belgien und die Kanalhäfen zu respektieren, wenn England neutral bliebe. Das Angebot wurde abgelehnt. Wie können dann ehrliche Historiker erklären, dass Deutschland den Krieg allein verursacht habe? Doch haben das zahlreiche Historiker getan. Der Vertrag von Versailles wurde auf dieser Travestie (oder besser «Scheinwelt», Anm. der Catracho-Redaktion) historischer «Tatsachen» begründet und seither aufrechterhalten. ……
Wären die Sieger von Versailles nur ein wenig gerecht gewesen, vielleicht sogar etwas großmütig, hätten sie mit mehr Weisheit in die Zukunft geblickt und bereitwilliger zugegeben, dass alle Mächte ihren Anteil an der Kriegsschuld hätten, hätten sie Deutschland nur hilfreich die Hand hingestreckt, es wäre unter Umständen niemals zu dieser gefährlichen Mischung von Groll, Demütigung und Verzweiflung gekommen. Die hieraus entstandene Empörungsbereitschaft wird jedes Volk voll Freude und Erleichterung einem Führer entgegenjubeln lassen, der ihm Rettung verheißt. …
Präsident Wilsons Außenminister, Robert Lansing, kennzeichnete die aus Versailles entstandene Lage folgendermaßen:
‘Der Völkerbund … könnte ebensogut versuchen, die Vegetation in einem Tropendschungel zu verhindern. Früher oder später wird es zu Kriegen kommen. Es muss in aller Offenheit zugegeben werden, dass der Völkerbund ein Instrument der Mächtigen ist, um das normale Wachstum nationaler Macht und nationaler Bestrebungen jener in Schach zu halten, die durch die Niederlage ohnmächtig geworden sind. Prüfen Sie den Vertrag, und Sie werden sehen, dass Völker gegen ihren Willen denen ausgeliefert sind, die sie hassen, während man ihnen ihre wirtschaftlichen Hilfsquellen fortgenommen und anderen gegeben hat. Groll und Verbitterung, wenn nicht Verzweiflung, müssen die Folgen solcher Zwangsmaßnahmen sein. … Diesen Krieg haben die USA geführt, um für immer Verhältnisse zu beseitigen, die ihn entstehen ließen. Doch sind diese Verhältnisse nicht beseitigt worden. Es sind andere an ihre Stelle getreten, die ebenso viel Hass, Eifersucht und Misstrauen erzeugen. .. Es ist wahr, sie haben, um die aufgebrachte öffentliche Meinung der Menschheit freundlich zu stimmen und dem Idealismus der Moralisten zu entsprechen, die neue Allianz mit einem Heiligenschein umgeben. … Es ist zwecklos, unsere Augen vor der Tatsache zu verschließen, dass … Gerechtigkeit von zweitrangiger Bedeutung ist. An erster Stelle steht Macht. Der Völkerbund, wie er sich jetzt konstituiert hat, wird eine Beute der Gier und Intrige… man fordert von ihm, als gerecht abzustempeln, was ungerecht ist. Wir haben einen Friedensvertrag, aber er wird keinen dauernden Frieden bringen, weil er auf dem Treibsand der Selbstsucht errichtet ist. (Zitiert aus: Robert Lansing, The Peace Negotiations, Boston 1921, S. 272)
(Zitat-Ende)
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